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Was ist
die Wahrheit, Ines?

Roman von Patricia Vandenberg

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Inhalt

Inhalt

Es regnete mal wieder in Strömen, als Dr. Norden das Haus von Regierungsrat Appel verließ, dessen junge Frau in dieser Woche schon den dritten Ohnmachtsanfall bekommen hatte. Zuerst hatte Dr. Norden eine Schwangerschaft vermutet, aber das hatte sich als Fehlanzeige erwiesen.

Sie hatte sich geweigert, in eine Klinik zur gründlichen Durchuntersuchung zu gehen, auch diesmal wieder. Dr. Daniel Norden war indessen zu der Überzeugung gekommen, daß der labile Zustand der jungen Frau psychische Hintergründe hätte. Werner Appel hatte ihm jedoch versichert, daß es keinerlei Anlaß gäbe, daß seine Frau sich auch nur die geringsten Sorgen machen müsse.

Wenn Dr. Norden keine Diagnose stellen konnte, beschäftigte ihn ein Fall unentwegt. Er war in Gedanken versunken, als er zu seinem Wagen ging. Es war eine stille Seitenstraße, und bei solchem Wetter jagte man nicht mal einen Hund auf die Straße. Ja, diese anhaltende Regenperiode konnte einem sensiblen Menschen schon zu schaffen machen, aber doch nicht einer jungen hübschen Frau, die in glücklicher Ehe lebte und eine süße kleine Tochter hatte.

Dr. Norden hatte schon die Wagentür geöffnet, als er das Geräusch von Schritten vernahm, dann auch heisere, atemlose Laute.

»Hilfe, fahren Sie nicht weg! Helfen Sie mir!« Und schon nahte keuchend und torkelnd eine schmale Gestalt, dunkel gekleidet, im strömenden Regen kaum erkennbar.

Es war ein Mädchen, das ihm buchstäblich in die Arme fiel. Ganz automatisch schob Dr. Norden dieses Geschöpf in seinen Wagen. Er hatte schon allerhand erlebt und lauschte schon wieder ganz gespannt, aber es war kein einziger Laut mehr zu vernehmen. Nicht der geringste Anlaß zu der Annahme bestand, daß das Mädchen verfolgt wurde.

Aber das Mädchen war patschnaß und zitterte. Große dunkle Augen blickten Dr. Norden voller Schrecken an, als er sich neben sie setzte.

Es sah auch nicht so aus, als suchte sie nur Gesellschaft oder gar vielleicht ein Abenteuer, vielleicht auch nur jemanden, der sie im Auto mitnahm.

»Ich danke Ihnen«, stammelte sie. »Er verfolgt mich überallhin.«

»Wer?« fragte Dr. Norden.

»Ich kenne ihn nicht. Seinen Namen kenne ich nicht«, flüsterte sie, »und ich weiß auch nicht, was er will. Er verfolgt mich Tag und Nacht.«

Ein Fall von Verfolgungswahn? Dr. Norden überlegte. »Wohin darf ich Sie bringen?« fragte er.

»Irgendwohin«, flüsterte sie, und dann sank sie plötzlich in sich zusammen.

Du liebe Güte, dachte Daniel Norden, wieder eine Ohnmacht. Wird das auch zu einer ansteckenden Krankheit? Aber er war Arzt. Er konnte und wollte einem hilflosen Mädchen seine Hilfe nicht versagen. In diesem Fall aber blieb ihm nichts anderes übrig, als die Fremde mit nach Hause zu nehmen, denn dort wurde er sicher schon mit brennender Ungeduld erwartet.

Anne Cornelius war nämlich für zwei Tage von der Insel der Hoffnung gekommen, um mal wieder dringende Besorgungen zu machen, aber auch, um ihre Lieben zu besuchen.

Und wie sehnlich wurde er erwartet.

Doch die Kinder standen mit weit aufgerissenen Augen da, als er die immer noch triefende Gestalt ins Haus trug. Auch Fee Norden und Anne waren konsterniert.

»Ich erkläre es euch später. Sie muß erstmal aus den nassen Klamotten«, sagte Daniel.

»Wer ist sie?« Obgleich das Mädchen ein Leichtgewicht war, war Daniel doch aus der Puste gekommen.

»Verschnauf dich«, sagte Anne Cornelius resolut. »Wir machen das.«

Daniel trug das Mädchen noch bis zum Gästezimmer. Dort breitete Anne schnell eine Decke über die Couch und dann, als Daniel die Ohnmächtige niedergelegt hatte, knöpfte sie auch schon den Mantel auf.

»Zieh dich auch um«, sagte sie zu Daniel.

Fee hatte ihren treuen Hausgeist Lenni Behnisch herbeigerufen, damit sie sich um die Kinder kümmere, denn Danny und Felix waren nun schrecklich aufgeregt, und es war vorauszusehen, daß sie ihren Papi mit Fragen bestürmen würden, die er nicht beantworten konnte.

Fee ging zu Anne, um ihr zu helfen, während Daniel im Bad verschwand.

»Teure Kleidung«, sagte Anne. »Ein hübsches Ding. Kein Straßenmädchen.« Das schien ihr zumindest eine Beruhigung zu sein.

Blondes Haar umfloß ein feines Gesicht. Fee nahm es wahr, während sie Anne beim Entkleiden half. Bis auf die Haut durchnäßt war das junge Ding, und eiskalt war der feingliedrige Körper. »Mach du bitte schon ein paar Wärmflaschen«, sagte Anne. »Sie muß ja stundenlang durch den Regen gelaufen sein.«

Sie wurde dann in wärmende Decken gehüllt, und Wärmflaschen wurden ihr unter die Beine und auf den Körper gelegt.

Daniel hatte geduscht und sich umgekleidet. Dann ging er zu dem Mädchen und untersuchte es.

»Hat sie Papiere bei sich?« fragte Daniel.

»Ich habe noch nicht nachgeschaut«, erwiderte Fee. »Eine Tasche hatte sie jedenfalls nicht.«

»Hat sie dir gar nichts gesagt?« fragte Anne.

»Nur, daß sie von einem Mann verfolgt würde, aber davon habe ich nichts gemerkt.«

Er konnte nicht wissen, daß es einen solchen Mann tatsächlich gab. Und dieser Mann hatte sich sein Autokennzeichen notiert. Er war auf weichen Sohlen gegangen, aber auch in gemessener Entfernung. Immerhin hatte er gesehen, wie das Mädchen in den Wagen geschoben wurde.

Und dieser Mann ließ keine Zeit verstreichen, um den Besitzer des Wagens ausfindig zu machen.

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Nachdem der Körper des Mädchens durchwärmt war, ging die Ohnmacht in einen tiefen Schlaf über.

»Sie muß sehr erschöpft sein«, stellte Fee, die ja auch Ärztin war, fest. Die Diagnosen überließ Fee aber lieber ihrem Mann.

»Ich habe heute schon mit einer erschöpften Frau zu tun gehabt, die auch unter Angstpsychosen mit Ohnmachten leidet«, sagte er. »Da sind mir handfeste Grippen lieber, gegen die man wenigstens etwas unternehmen kann.«

»Man könnte sie tatsächlich verfolgt und bestohlen haben«, sagte Anne. »Jedenfalls konnte ich nicht den geringsten Hinweis auf Personalien oder nur eine Adresse finden. Zwei Papiertaschentücher in den Manteltaschen sind alles. Keine Geldbörse, kein Schlüssel, nichts. Die Kleidung ist nicht in Europa gekauft, aber was sie am Leib trug, würde bei uns sehr viel Geld kosten. Modelle erster Qualität. Im übrigen werden wir warten müssen, bis sie ausgeschlafen hat.«

»Ausgerechnet wenn du mal in München bist, muß uns so was passieren«, sagte Fee.

»Ihr führt halt ein aufregendes Leben«, meinte Anne. »Mach dir keine Gedanken, Fee. Das Mädchen interessiert mich.«

»Anne wittert ein Abenteuer«, bemerkte Daniel.

»Ist doch auch mal eine Abwechslung«, meinte Anne lächelnd. »Bei uns geht immer alles so hübsch im Trott.«

Anne war mit Fees Vater, Dr. Johannes Cornelius, in zweiter Ehe verheiratet. Im Sanatorium »Insel der Hoffnung« waren sie während der letzten Monate von aufregenden Ereignissen verschont geblieben. Sie hatte nichts dagegen, wenn es mal wieder ein bißchen Nervenkitzel gab.

Ihre Gegenwart wirkte aber auch beruhigend auf Daniel und Fee. Anne konnte so schnell überhaupt nichts aus der Ruhe bringen, seit sie Frau Cornelius war. Sie hatte genug durchgemacht, bis sie in diesem großartigen Mann den Lebensgefährten gefunden hatte, der sie eine traurige Vergangenheit vergessen ließ.

Danny, Felix und die kleine Annekatrin, Dr. Nordens Kinder, schliefen längst, als die junge Frau erwachte. Da saß Anne an ihrem Bett, und das war gut so. Ein Männergesicht hätte das Mädchen wohl erschreckt.

»Wo bin ich?« fragte sie, und Anne war solche Frage vertraut, wenn sich ein Mensch nach langer Bewußtlosigkeit in einer ihm fremden Umgebung wiederfand.

»Bei meinem Schwiegersohn Dr. Norden«, erwiderte sie ruhig. »Er hat Sie in seinem Wagen mitgenommen. Sie waren völlig durchnäßt und erschöpft. Dr. Norden ist Arzt.«

»Und der Mann?« fragte das Mädchen.

»Ich weiß von keinem Mann«, erwiderte Anne, »aber Dr. Norden wird Ihnen einige Fragen stellen wollen, wenn Sie wieder okay sind.«

»Ich bin müde«, murmelte das Mädchen.

»Aber ein paar Fragen können Sie uns doch beantworten«, sagte Anne freundlich. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Hier sind Sie völlig sicher.«

»Ich kann mich erinnern, daß ein Mann mich in seinem Auto mitgenommen hat«, sagte das Mädchen schleppend.

Daniel trat in den Lichtkreis der Lampe. »Der Mann bin ich«, sagte er.

Das Mädchen sah ihn an, sehr lange, schwer atmend. »Ja, ich erkenne Sie«, erwiderte sie.

Anne räumte ihm ihren Platz ein. Sie war schon richtig steif geworden vom Stillsitzen, das ihrem Temperament ohnehin nicht lag. Sie mußte immer in Bewegung bleiben. Außerdem traute sie Daniel zu, daß er das Mädchen viel besser und diplomatischer ausfragen könnte als sie, denn sie neigte dazu, sehr impulsiv zu sein.

»Würden Sie mir bitte sagen, wie Sie heißen?« fragte Daniel ruhig.

»Ines Alberto.« Die Antwort kam schnell. »Ich komme aus Brasilien, möchte hier studieren. Bitte, glauben Sie mir, Herr Doktor.«

»Ich glaube Ihnen ja«, erwiderte Daniel. »Wie alt sind Sie?«

»Einundzwanzig.«

»Und wo wohnen Sie hier in München?«

»In der Pension König.«

Die war Dr. Norden nicht unbekannt. Man mußte schon gut betucht sein, wenn man dort wohnen konnte. Zu Fuß konnte man sie von seinem Wohnhaus in einer Viertelstunde erreichen.

Er fragte sich, warum dieses Mädchen, dieser Pension doch so nahe, so lange im Regen herumgeirrt sein mochte.

Aber mit seinen Fragen war er weiterhin vorsichtig.

»Sind Sie allein hier?« wollte er wissen.

Ines nickte. »Papa stammt aus Deutschland, aus Bayern«, sagte sie leise.

»Er wollte abwarten, ob es mir hier gefallen würde. Es gefällt mir nicht.«

»Warum nicht?« fragte Dr. Norden.

»Der Mann jagt mir Angst ein. Eigentlich sind es zwei Männer. Sie verfolgen mich abwechselnd. Der eine war schon im Flugzeug. Der andere ist in der Pension aufgetaucht. Ich will nicht mehr dorthin zurück. Bitte, helfen Sie mir. Ich will heim zu Papa.«

»Wir werden dafür sorgen, Fräulein Alberto«, versprach Dr. Norden.

»Und Sie werden niemandem verraten, daß ich hier bei Ihnen bin?«

»Nein, ich werde es niemandem sagen.«

»Mein Vater ist ein sehr reicher Mann, Herr Doktor, er wird Sie belohnen. Er hat immer so gut gesprochen von seiner Heimat, aber ich habe hier nur Angst kennengelernt. Vielleicht will man mich entführen und Papa erpressen. Vielleicht stecken die Männer mit Frau König unter einer Decke.«

Entweder sagt sie die Wahrheit oder sie hat eine blühende Phantasie, dachte Dr. Norden.

»Jetzt schlafen Sie sich aus, Ines«, sagte er. »Morgen sehen wir weiter.« Er hatte gemerkt, daß ihr die Augen schon wieder zufielen. Sie mußte schon lange nicht mehr richtig geschlafen haben.

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»Vielleicht ist sie eine Psychopatin«, sagte Daniel, als er sich zu Anne und Fee setzte.

»Das glaube ich nicht«, sagte Anne.

»Warum nicht?«

»Intuition«, gab Anne lakonisch zur Antwort.

»Vielleicht kannst du mir auch in einem anderen Fall weiterhelfen, der mich sehr beschäftigt«, sagte Daniel. »Renate Appel, verheiratet mit einem Regierungsrat, in besten Verhältnissen lebend. Die Tochter vermögender Eltern, er Sohn vermögender Eltern. Sie ist fünfundzwanzig, er ist achtundzwanzig. Hat mit vierundzwanzig seinen Doktor gemacht. Eltern einer zweijährigen Tochter.«

»Und wer ist krank?« fragte Anne.

»Sie fällt dauernd in Ohnmacht, in dieser Woche das dritte Mal.«

»Ist sie schwanger?« fragte Anne.

»Nein.«

»Organisch krank?«

»Nein.«

»Kannst du nicht ein bißchen mehr sagen, als nur nein?«

»Sie ist mir ein Rätsel, genauso eins wie dieses Mädchen. Aber Werner Appel sagt, daß sie keinerlei Grund hat, sich Sorgen zu machen.«

»Vielleicht ist sie eifersüchtig«, meinte Anne.

»Sie sind glücklich verheiratet. Er beteuert es zumindest.«

»Männer beteuern manchmal viel«, sagte Anne.

»Und Frauen bilden sich manchmal viel ein«, warf Fee ein. »Er könnte eine hübsche Sekretärin haben. Die Frau weiß es. Sie sitzt daheim und grübelt.«

»Du tust es hoffentlich nicht, wenn ich unterwegs bin«, scherzte Daniel.

»Manchmal habe ich mir auch meine Gedanken gemacht«, erwiderte Fee.

»Das darf doch nicht wahr sein.« Daniel spielte den Empörten.

»Wirst du etwa nicht genug angeschwärmt?« fragte Fee. »Sieht Werner Appel eigentlich gut aus?«

»Darauf kommt es doch gar nicht an«, warf Anne ein. »Hauptsache, die Männer sind zahlungsfähig. Ich meine dann, wenn es sich um einen verheirateten Mann handelt.«

»Hört, hört, was unsere Anne für Ansichten hat.« Daniel lachte.

»Stimmt es etwa nicht?« fragte Anne.

»Meistens«, gab Daniel zu, »aber ist es bei den Männern denn anders, wenn sie Geld bei einer Frau wittern?«

»Mir gefällt so was gar nicht«, erwiderte Fee.

»Uns auch nicht, Liebes«, meinte Anne. »Aber die wahre Liebe gibt es selten. Ines ist ja recht vermögend.«

»Du meinst, daß sie deshalb verfolgt wird?« fragte Daniel.

»Hübsch ist sie allerdings auch«, sagte Anne, »aber wenn sie wirklich verfolgt wird, kann doch nicht Zuneigung der Grund sein. Das Mädchen hat schreckliche Angst.«

»Ja, dem möchte ich beipflichten«, sagte Daniel nachdenklich.

»Diese Angst ist nicht gespielt.«

»Sie könnte aber auch tatsächlich an Verfolgungswahn leiden«, meinte Eyken.

»Vielleicht hatte sie mal ein häßliches Erlebnis mit einem Mann und sieht nun in jedem einen Verfolger.«

Daniel versank in Nachdenken. »Ich fahre morgen zur Pension König«, sagte er. »Man muß sich erkundigen.«

»Ruf doch an«, schlug Anne vor.

»Nein, das möchte ich persönlich erledigen. Am Telefon findet man schnell Ausreden oder legt einfach auf.«

»Sie soll also hierbleiben«, sagte Fee.

»Ja, sie bleibt hier, bis das geklärt ist. Schwebt sie wirklich in Gefahr, würden wir uns schwere Vorwürfe machen, wenn ihr etwas passiert.«

Fee mußte ihm recht geben. Sie hatten noch nie einem Menschen Hilfe versagt, der in einer Notlage war. Dieses Thema war damit für den heutigen Tag erledigt, doch was Frau Appel anbetraf, meinte Fee doch, daß man mal nachgrasen müsse, ob bei ihr nicht doch Eifersucht im Spiele sei.

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Da brauchte Daniel Norden nicht erst nachzugrasen. Als er am nächsten Morgen in die Praxis kam, rief Renate Appel schon an. Sie bat um seinen Besuch.

Er hatte nur zwei Patienten bestellt, die ihre Spritzen bekommen mußten, dann mußte er ohnehin Krankenbesuche machen, und zur Pension König wollte er auch fahren.

Er fuhr zuerst zu Frau Appel, die ihm selbst die Tür öffnete. Sie sah verweint aus und war maßlos nervös. Er hatte sich schon seine Gedanken gemacht, und Fee schien recht zu haben mit ihrer Vermutung.

Ihr Mann wolle allein verreisen, beklagte sie sich. »Ich soll indessen in die Klinik gehen und mich untersuchen lassen. Er hat schon seine Mutter angerufen, damit sie sich um Sandra kümmert. Mein Mann hat keinerlei Verständnis für mich, und meine Schwiegermutter hat sowieso dauernd etwas an mir auszusetzen.«

»Ihr Mann ist sehr besorgt um Sie, Frau Appel. Ich weiß es«, sagte der Arzt beruhigend. »Es handelt sich doch um eine Dienstreise, wie er mir sagte.«

»Ja, das schon, aber ich sollte ihn begleiten, und nun will er es plötzlich nicht mehr.«

»Wahrscheinlich sorgt er sich wegen der häufigen Ohnmachtsanfälle. Ich würde ein solches Risiko auch nicht eingehen, Frau Appel.«

»Aber Sie müßten doch herausfinden, woher diese Ohnmachten kommen«, sagte sie vorwurfsvoll.

Er betrachtete sie forschend. »Machen Sie etwa eine Abmagerungskur?« fragte er nachdenklich.

Das Blut schoß ihr ins Gesicht, das schmal geworden war. »Ich esse nur weniger, damit ich mein Idealgewicht erreiche«, redete sie sich heraus.

Dr. Norden furchte die Stirn. Schlank war sie ja immer schon gewesen, seit er sie kannte, und nach dem Kind hatte sie auch schnell wieder abgenommen.

»Welches Idealgewicht schwebt Ihnen denn vor?« fragte er.

»Neunundvierzig Kilo. Das habe ich auch gewogen, als wir heirateten. Ich habe es bald erreicht.«

Unwillen ergriff ihn. »Und fallen jeden Tag in Ohnmacht«, sagte er. »Ich hätte Sie eigentlich für klüger gehalten. Sie haben inzwischen ein Kind bekommen, und es beansprucht Sie.«

Er wußte schließlich, wie lebhaft die kleine Sandra war. Ehrliche Worte schienen hier angebracht, denn er wollte ihr helfen. Spindeldürr war sie, wenn man es drastisch ausdrücken wollte, und das sagte er auch. Er hatte ohnehin eine Wut auf diese pauschalen Gewichtstabellen, von denen die Konstitution des Einzelnen nicht berücksichtigt wurde.

»Mit ein paar Pfunden mehr haben Sie mir bedeutend besser gefallen«, sagte er ohne Beschönigung, »und Ihrem Mann wahrscheinlich auch.«

Sie wurde sehr verlegen, und dann erfuhr er, daß sie tatsächlich eifersüchtig war, nicht auf eine Sekretärin, sondern auf eine frühere Schulfreundin, die nach München gezogen war und immer öfter zu ihnen kam.

Es war eine junge Schauspielerin namens Linda Fesel, und das Foto, das Renate Appel ihm zeigte, verriet, daß sie eine Traumfigur hatte. Aber ganz sicher wog sie nicht nur die neunundvierzig Kilo, die nun auch Renate anstrebte. Das sagte er auch.

»Aber wenn sie es sagt«, meinte Renate.

»Dann soll sie sich doch mal bei Ihnen auf die Waage stellen, damit Sie es auch kontrollieren können«, antwortete er. »Wenn Sie solche Figur haben wollen, müßten sie gut drei Kilo zunehmen. Lassen Sie sich das von einem Arzt gesagt sein, der seine Erfahrungen hat.«

»Sie flirtet mit meinem Mann«, klagte Renate weinerlich. »Vielleicht nimmt er sie mit auf die Reise.«

»Jetzt reden Sie sich das doch nicht auch noch ein, Frau Appel«, sagte Dr. Norden ungehalten. »Aber Sie können das doch schnellstens nachprüfen, wenn Sie Ihre Freundin einladen, während Ihr Mann abwesend ist.«

»Sie kommt aber nur, wenn er da ist.«

Ein bißchen einfältig ist sie schon, dachte Dr. Norden, aber Eifersucht konnte genauso blind machen wie Liebe.

»Sie brauchen es ihr nicht zu verraten, daß er verreist«, riet er ihr.

»Und wenn sie nicht kommt, muß ich doch annehmen, daß sie Werner begleitet.«

Dr. Norden stöhnte in sich hinein. Da vertrödelte er seine Zeit mit guten Ratschlägen, und sie wollte diese anscheinend gar nicht annehmen.