Clare Carlisle

Der Philosoph des Herzens

Das rastlose Leben
des Søren Kierkegaard

Aus dem Englischen übersetzt
von Ursula Held und Sigrid Schmid

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Philosopher of the Heart.

The Restless Life of Søren Kierkegaard« im Verlag Allen Lane,
Imprint Penguin Books, London

© Clare Carlisle, 2019

Für die deutsche Ausgabe

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung eines Entwurfs von PENGUIN BOOKS LTD

© Marmorpapier: University of Washington Libraries, Special Collection

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98224-4

E-Book: ISBN 978-3-608-12078-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Vorwort

Bei der Frage nach der menschlichen Existenz sei ein Liebesverhältnis immer besonders lehrreich, befand Søren Kierkegaard, nachdem seine einzige Liebesbeziehung mit einer gelösten Verlobung zu Ende gegangen war.[1] Kierkegaard konzipierte eine Philosophie, indem er das Leben aus der Innenperspektive betrachtete. Mehr als jeder andere Denker brachte er die eigene Erfahrung in sein Werk ein. Über das Scheitern seiner Liebe gewann er Einsichten in die menschliche Freiheit und Identität, die den Anfang für seinen anhaltenden Ruhm als »Begründer des Existentialismus« bildeten. Kierkegaard prägte einen neuen philosophischen Stil, der auf dem inneren Drama des Menschseins gründete. Er war ein schwieriger Mensch – und wahrscheinlich kein gutes Vorbild –, aber sein Wille, von den Umständen des Menschseins Zeugnis abzulegen, wirkt noch heute inspirierend. Er wurde zu einem Experten in Sachen Liebe und Leid, Freude und Angst, Verzweiflung und Mut. Er machte die Angelegenheiten des Herzens zum Gegenstand seiner Philosophie, seine Schriften haben Generationen von Lesern bewegt und berührt.

Als die schwedische Schriftstellerin Fredrika Bremer(1) 1849 Kopenhagen(1) besuchte, um über das kulturelle Leben in Dänemark(1) zu berichten, war Kierkegaard schon seit mehreren Jahren eine Berühmtheit seiner Geburtsstadt. Zu einem Treffen der beiden kam es nicht, Kierkegaard schlug ihre Anfragen aus, doch Bremer(2) erfuhr, was man sich über sein rastloses Wesen erzählte: »Am Tage sieht man ihn zu gewissen Stunden auf den volksreichsten Straßen in Kopenhagen(2), mitten im Volksgewimmel, herum gehen; des Nachts soll seine einsame Wohnung von Licht strahlen.« Es mag nicht überraschen, dass sie(3) ihn als »unzugänglichen« Menschen charakterisierte, dessen Blick »unverwandt auf einen Punkt gerichtet« sei. »Auf diesen Punkt hält er ein Mikroskop«, schrieb sie, »diesen Punkt durchforscht er bis in seine kleinsten Atome, beobachtet dessen leiseste Bewegungen, dessen innerste Verwandlungen; über diesen Punkt spricht er, über diesen Punkt schreibt er wieder und immer wieder zahlreiche Seiten. Alles findet sich für ihn in diesem Punkt. Allein dieser Punkt ist – das menschliche Herz.« Bremer(4) entging nicht, dass Kierkegaards Schriften vor allem weibliche Leser erreichten: »Diesen muss die Philosophie des Herzens nahe liegen(5)[2] Doch auch bei Männern entfalteten seine Texte ihre Wirkung – es genügt ein Blick auf die verschiedenen Generationen von Kierkegaard-Lesern, zu denen die einflussreichsten Denker und Künstler des vergangenen Jahrhunderts gehören.

Natürlich war Kierkegaard nicht der Erste, der sich mit dem Sinn des Menschseins beschäftigte. Er arbeitete sich durch die europäische(1) Denktradition und nahm nicht nur die griechische(1) Metaphysik, das Alte und Neue Testament, die Kirchenväter und die Klosterschriften des Mittelalters, Luther(1) und den protestantischen Pietismus, sondern auch die Werke von Descartes(1), Spinoza(1), Leibniz(1), Kant(1), Schelling(1) und Hegel(1) sowie die Literatur der Romantik in sich auf. In den ideenreichen, stürmischen Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts brachte er die verschiedenen Denkströmungen mit seinem eigenen Dasein in Verbindung, ihre Spannungen und Widersprüche wühlten ihn zutiefst auf. Zugleich war sein Herz von intensiven Liebesbeziehungen – zu seiner Mutter Anne(1), seinem Vater Michael Pedersen(1), seiner Verlobten Regine(1), zu seiner Stadt(3), seinem Schreiben, seinem Gott – in Beschlag genommen, die allesamt (vermutlich bis auf erstere) tief ambivalent waren.

Im Anschluss werden wir Kierkegaard zum ersten Mal begegnen, als er im Mai 1843 per Zug, Kutsche und Dampfschiff aus Berlin(1) nach Kopenhagen(4) zurückkehrt. Und sofort lernen wir ihn als Schriftsteller kennen, da er eben da, mit 30 Jahren, mit dem Schreiben begann, das ihn berühmt machen sollte. Kierkegaard hatte einen eingängigen Schreibstil, er übertrug sein Seelenleben in seine geliebte dänische Sprache, und selbst in der Übersetzung können wir den Rhythmus seiner Prosa und die Poesie seines Denkens spüren. Was Kierkegaard später seine »schriftstellerische Tätigkeit« nennt, nahm ein Großteil seines Lebens ein und kostete ihn viel Kraft und Geld. Schriftsteller war er, weil er in erstaunlich kurzer Zeit große Bücher schuf und zahlreiche Tagebücher und Notizhefte füllte. Zugleich war das Schreiben für ihn lebensnotwendig, es war seine heftigste Liebe, in die alle weiteren Lieben einflossen. Es war eine kräftezehrende, fordernde Liebe: In jungen Jahren verlangte ihm das Schreiben viel Mühe ab, doch einmal angefangen konnte er nicht mehr damit aufhören. Er beschäftigte sich mit Fragen der Autorschaft und Autorität und war ständig hin- und hergerissen zwischen der Freude am Schreiben und den Widrigkeiten der Veröffentlichung, er war fasziniert vom literarischen Fach und anspruchsvoll in puncto Typografie und Buchbinderkunst.

Er schrieb immer zugleich als Philosoph und als Suchender. Im Höhlengleichnis aus Platons(1) Politeia (Der Staat) entkommt ein Einzelner auf der Suche nach wahrer Erkenntnis der gewohnten Scheinwelt und kehrt zurück, um seiner verständnislosen Umgebung von seiner Entdeckung zu berichten. Eben dieser Archetyp des Philosophen kennzeichnet Kierkegaards Verhältnis zu seiner Welt, der Welt des 19. Jahrhunderts. Ähnlich erkannte Kierkegaard in der alttestamentarischen Geschichte von Abrahams(1) beschwerlichem Opfergang nach Moria die religiösen Motive – die Sehnsucht nach Gott, das mühsame Begreifen der eigenen Bestimmung und die Suche nach einem glaubwürdigen spirituellen Weg –, die auch seine Seele antreiben. Sein Glaube widersetzte sich wiederholt der Konvention, doch seine Überzeugungen waren niemals unorthodox.

Das vorliegende Buch begleitet Kierkegaard bei seinem Ringen mit den »Fragen der Existenz«, die ihm Ansporn und Qual zugleich waren, die ihn lähmten und umtrieben: Was bedeutet Menschsein in der Welt? Er hielt nicht viel von den Abstraktionen der modernen Philosophie und bestand darauf, dass wir inmitten des Lebens, mit unbestimmter Zukunft, herausfinden müssen, wer wir sind und wie wir leben sollen. So wie man nicht aus einem fahrenden Zug aussteigen kann, so lässt sich auch vom Leben kein Abstand nehmen, um über seinen Sinn zu reflektieren. Auf ganz ähnliche Weise betrachtet diese Biografie Kierkegaard nicht von einem entfernten, wissenden Standpunkt aus, sondern schließt sich ihm auf seinem Weg an und begegnet dabei denselben Schwierigkeiten wir er selbst.

Als ich zum ersten Mal mit meinem Lektor über mein Buchvorhaben sprach, meinte er, ich hätte wohl eine »kierkegaardsche« Biografie Kierkegaards vor Augen. Damit hatte er absolut recht, und am Ende war ich verblüfft, wie mich seine Bemerkung während des Schreibens gelenkt hat. Oftmals war ich unsicher, wie ich vorgehen sollte, aber im Rückblick erkenne ich, dass vor allem wichtig war, den unscharfen, schwimmenden Grenzen zwischen Kierkegaards Leben und Schreiben zu folgen und zuzulassen, dass philosophische und religiöse Fragen die Ereignisse, Entscheidungen und Begegnungen prägen, welche die Tatsachen des Lebens bilden. Die Gliederung dieses Buches lehnt sich an die kierkegaardsche Frage nach dem Menschsein in der Welt an. Zu Beginn des ersten Teils »Rückkehr« treffen wir Kierkegaard inmitten seiner Arbeit an Furcht und Zittern an, in dem er eine hoffnungsvolle – und eigentlich sehr schöne – Antwort auf diese Frage gibt. Im zweiten Teil »Rückwärts begreifen« begegnen wir ihm 1848, fünf Jahre später, als er auf sein Leben und Schreiben zurückblickt und die Existenzfrage anders beantwortet. Kierkegaard stand die eigene Sterblichkeit immer deutlich vor Augen, doch im Laufe dieser fünf Jahre veränderte sich sein Umgang mit einem (wie er dachte) kurz bevorstehenden Tod: 1843 stellte dieser noch eine gnadenlose Frist dar und trieb sein Schreiben an, 1848 aber betrachtete er sein Ableben als Vollendung seines schriftstellerischen Wirkens. In »Vorwärts leben« folgen wir Kierkegaard in seiner Auseinandersetzung mit der Welt, am Ende dieses dritten Teils steht dann sein Abschied.

Kierkegaard ist kein einfacher Reisegefährte, obwohl viele Berichte bezeugen, dass er ein charmanter, witziger, einfühlsamer und ungemein interessanter Mensch war. So hielt etwa der dänische Schriftsteller Carl J. Brandt(1) am 1. September 1843 in seinem Tagebuch fest: »Am Abend habe ich mich mit Magister Søren Kierkegaard unterhalten. Er ist nicht gerade der Mensch, mit dem man zur Ruhe kommen kann, und doch geschah es – wie so oft –, dass seine Worte mir eben das klar werden ließen, worüber ich in letzter Zeit nachgedacht habe.«[3] Kierkegaards Eltern gaben ihrem Sohn einen Namen, der »ernsthaft, streng« bedeutet, und je älter Søren wurde, desto deutlicher wurde er diesem Namen gerecht. In seiner Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den Philosophischen Brocken schrieb der 33-Jährige, der religiöse Mensch müsse das »Geheimnis des Leidens als Form des höchsten Lebens, höher als alles Glück und verschieden von allem Unglück« begreifen. »Denn darin besteht die Strenge des Religiösen, dass es damit anfängt, alles strenger zu machen«.[4] Ein paar Seiten später jedoch beschreibt er, wieso sich auch ein religiöser Mensch an einem Ausflug in den Tierpark erfreuen kann: »Weil es der demütigste Ausdruck für das Gottesverhältnis ist, sich seiner Menschlichkeit zu bekennen, und es ist menschlich, sich zu vergnügen.«[5] Freude, so Kierkegaard, will sich offenbaren, Leid dagegen will sich verbergen.

Doch die Freude am Menschsein war für Kierkegaard kein Leichtes. Anfang der 1840er Jahre war er ein wohlhabender, talentierter und geselliger junger Mann, noch dazu geliebt von einer schönen und intelligenten Frau(2) – und doch fiel es ihm außergewöhnlich schwer, sein Leben zu meistern. Dieser verborgene Teil seiner Psyche war untrennbar mit seiner philosophischen Haltung zur Welt verbunden. Kierkegaard war womöglich der erste große Philosoph, der die Erfahrung machte, sich in einer spürbar modernen Welt aus Zeitungen, Zügen, Kaufhäusern, Vergnügungsparks und großen Speichern an Wissen und Information zu bewegen. Das Leben wurde zwar materiell gesehen einfacher und für wohlhabende Leute wie ihn sehr viel angenehmer, doch es rief neue Ängste in Bezug auf die eigene Identität und Rolle hervor. Kierkegaard war dem öffentlichen Blick auf viele Weise ausgesetzt: Nicht nur durch seine veröffentlichten Schriften begutachtete man ihn, auch auf den Straßen Kopenhagens, in den schicken Cafés entlang der Strøget(1) und in den Zeitungen seiner Stadt spürte Kierkegaard den Blick der anderen – und was sie sahen, quälte ihn.

In seiner Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift beschreibt er einen Philosophen Anfang 30, der ihm sehr ähnlich ist: Er sitzt vor einem Café im Frederiksberg(1) Have, raucht eine Zigarre und denkt über seinen Platz in der Welt nach: »Du wirst nun, sagte ich zu mir selbst, allmählich alt, ohne etwas zu sein und ohne dir eigentlich etwas vorzunehmen. Dagegen siehst du überall, wo du dich in der Literatur oder im Leben umschaust, die Namen und Gestalten von Gefeierten, siehst die teuren und mit Akklamation begrüßten Leute auftreten, oder hörst von ihnen reden, von den vielen Wohltätern der Zeit, die der Menschheit dadurch zu nützen verstehen, dass sie das Leben immer leichter machen, die einen durch Eisenbahnen, andere durch Omnibusse und Dampfschiffe, wieder andere durch das Telegraphieren, noch wieder andere durch leichtfassliche Übersichten und kurze Mitteilungen von allem Wissenswerten.«

Auch das religiöse Leben werde vereinfacht, so seine Überlegung, denn die Systeme der Philosophen erklärten den christlichen Glauben und zeigten der Gesellschaft seine Wahrheit, Vernunft und Moral auf. »Was tust du?«, fragt sich da auf einmal der junge Mann. »Hier wurde meine Selbstbetrachtung unterbrochen, denn die Zigarre war aufgeraucht, eine neue musste angezündet werden. So rauchte ich erneut, und da fährt plötzlich dieser Gedanke durch meine Seele: Du musst etwas tun, aber da es für deine eingeschränkten Fähigkeiten unmöglich ist, irgendetwas noch leichter zu machen, als es bereits ist, musst du dich mit der gleichen menschenfreundlichen Begeisterung wie die anderen der Aufgabe annehmen, etwas schwerer zu machen. Dieser Einfall gefiel mir außerordentlich, gleichzeitig schmeichelte es mir, dass ich nun wie andere auch durch mein Streben von der ganzen Gemeinde geliebt und geachtet würde.«[6]

Die heiter klingenden Sätze stecken voller Ironie: Als Kierkegaard sie schrieb, war er tief enttäuscht von der zögerlichen Wertschätzung für sein Werk. Sein Bestreben, den Konflikten des Menschseins auf den Grund zu gehen, führte zu endlos abschweifenden, widersprüchlichen Textsammlungen, die sich jeder Zusammenfassung oder Paraphrase widersetzen, da unendlich viel zwischen den Zeilen steckt. In vielen dieser Texte tauchen verschiedene Erzählstimmen auf, die sich über Lebensansichten auseinandersetzen, ohne zu einer klaren Schlussfolgerung zu gelangen. Sie stellen Wahrheiten heraus, äußern aber genauso Fehler und Missverständnisse. Man kann sich Jahrzehnte mit ihrer literarischen und philosophischen Vielschichtigkeit beschäftigen (genau das habe ich getan), und doch zu keinem Ende finden. Für Kierkegaard war die Tätigkeit des Philosophierens keine Abfertigung passgenauer Ideen, sondern die Erarbeitung tiefer geistiger Einblicke, die, so hoffte er, in die Herzen seiner Leser vordringen und sie verwandeln würden. Viele seiner Zeitgenossen beunruhigte oder verdutzte diese Vorgehensweise, sie erkannten Kierkegaards Genie, doch es war einfacher, sich über seine Brüche und Eigenheiten lustig zu machen als seine Bücher zu verstehen.

Natürlich gründeten Kierkegaards Hoffnung auf Anerkennung und seine Sorge um sein öffentliches Bild auf dem Gefühl, herausgestellt und beurteilt zu werden – ein Gefühl, das untrennbar mit der Erfahrung des Menschseins in der Welt verknüpft ist. Es fällt uns schwer, andere nicht zu beurteilen: Wir schätzen unsere Mitmenschen schon bei der ersten Begegnung ab und passen unser Bild nach und nach an, je mehr sie von sich offenbaren. Während ich so unangenehm dicht an Kierkegaard heranrückte, ertappte ich mich manchmal dabei, dass er mir unsympathisch wurde – eine ähnlich schmerzhafte Erfahrung wie das Aufdecken von Fehlern bei einer Person, die man liebt. Seine Bücher treten mit hohem Anspruch an den Leser heran, seine lyrischen religiösen Diskurse behandeln erhabene Ideale – wie etwa das Bild vom reinen menschlichen Herz, das Gottes Güte so wahrhaftig widerspiegelt wie das stille, ruhige Meer den Himmel. In seinen Tagebüchern dagegen geht Kierkegaard seine kleinlichen Kränkungen durch, seinen Neid auf den Erfolg seiner Rivalen, seine bittere Wut auf alle, die ihn beleidigen, seinen verletzten Stolz. Oft bemitleidet er sich selbst, sucht nach Rechtfertigungen und gibt anderen die Schuld an seinen Enttäuschungen.

Ist er ein Heuchler, weil er etwas predigte, das er selbst nicht praktizierte oder erlebte? Ganz und gar nicht: Kierkegaards bemerkenswerte Fähigkeit, Güte, Reinheit und Frieden zu beschwören, ist nicht zu trennen von den Stürmen, die in seiner Seele wüteten – immer ist da die Sehnsucht nach dem, was ihm fehlt. Seine Philosophie ist bekannt für ihre Widersprüche, und so war auch Kierkegaards rastlose Suche nach Ruhe, Frieden und Stille ein Paradox und eine Wahrheit, die er täglich lebte. Und wie bei jedem Menschen war sein Leben eine Mischung aus kleinlichen und großartigen Themen, die gleichermaßen starke Forderungen an ihn stellten. Er bemühte sich, diese Sphären zu trennen, doch oftmals kollidierten sie in einem Ausbruch komischer oder tragischer Absurdität. Als »religiöser Schriftsteller« setzte er alles daran, geistige Ideale von Kompromissen und Korruptionen freizuhalten und wusste doch aus eigener Erfahrung, dass sie sich einschleichen, sobald ein Mensch nach diesen Idealen zu leben versucht.

Angesichts meiner ablehnenden Reaktion auf Kierkegaards allzu menschliche Gedanken und Gefühle habe ich darüber nachgedacht, ob eine Biografie zwangsweise zu einem Urteil über das beschriebene Leben kommen muss, ob sein Erfolg, seine Aufrichtigkeit und Moral zu bewerten sind. Als kierkegaardsche Biografin möchte ich dem Impuls widerstehen, solche Urteile auszusprechen oder herauszufordern. Und das nicht, weil Kierkegaard selbst besonders unvoreingenommen gewesen wäre – obgleich er selten moralisierte oder selbstgerecht auftrat. Auch nicht, weil er als Schüler des Sokrates(1) Selbsterkenntnis als höchste Disziplin der Philosophie ansah und seine Leser ermuntert, ihre Urteilskraft auf sich selbst anzuwenden. Vielmehr deswegen, weil Kierkegaard begriff, dass es eine Freiheit gibt, die darin besteht, die gängigen weltlichen Maßstäbe zur Bewertung eines menschlichen Lebens fallenzulassen.

Kierkegaard hatte keine Frau, mit der er sich am Ende des Tages austauschen konnte, und so goss er seine Verärgerung und sein Selbstmitleid in klare, detaillierte Prosa. Die Vorgehensweise war vielleicht ungewöhnlich, seine Gefühle aber waren es nicht: Wenn wir Kierkegaards Tagebücher lesen, erkennen wir all diese unangenehmen Empfindungen wieder, weil wir sie am eigenen Leib erfahren. In seiner Philosophie untersuchte Kierkegaard den menschlichen Zwang zu Urteilen, der so tief in unserem individuellen Denken und unserer kollektiven Kultur verwurzelt ist, dass es kaum ein Entkommen gibt. Er spricht hier von der »Sphäre des Ethischen« oder ganz einfach von der »Welt«, die uns wie Platons(2) Höhle umgibt und gefangen hält. Dass der Mensch über sich und andere urteilt, ist unvermeidbar, meinte Kierkegaard. Doch keines dieser menschlichen Urteile kann absolut oder endgültig sein. Es ist immer möglich, einen ganz anderen Standpunkt einzunehmen, denn jeder Einzelne gehört einer Sphäre der unendlichen Tiefe an, die Kierkegaard »Innerlichkeit«, »Gottesbeziehung«, »Ewigkeit«, »Sphäre des Religiösen« oder ganz einfach »Stille« nennt.[7] Sein Schreiben öffnet diese Sphäre im Herzen des Daseins und weist dem Leser einen Weg in diese Tiefe.

TEIL EINS

Mai 1843: Rückkehr

Aber so herniedergleiten können, dass es in der gleichen Sekunde aussieht, als ob man stünde und ging, den Sprung ins Leben zum Gange wandeln… – das kann nur jener Ritter [der Unendlichkeit].[8]

Kapitel Eins

Die gelebte Frage der Existenz

Noch nie hat er sich so schnell fortbewegt! Und doch sitzt er ganz still und recht bequem, er ruht in einem »herrlichen Lehnstuhl«[1]. Die Felder, immer noch frühlingshaft grün, fliegen vorbei. Da ist kein göttlicher Wind, der in die Segel fährt und die Reise vorantreibt. Das hier ist eine neue Art von Wunder: Die alchimistische Verbindung von Dampf und Stahl, Erfindergeist und Ehrgeiz sorgt dafür, dass die westliche Welt von Eisenbahnen durchzogen wird.[2] Das neue Fortbewegungsmittel beschert einem Herrn wie ihm Zeit zum Ausruhen. Im Waggon der Ersten Klasse ist es ruhig, und wie üblich reist er allein. Die vorbeiziehende Landschaft lässt ihn über die vergangene Zeit nachdenken und über die Dinge, die sich verändert haben. Er erinnert sich an die intensiven Erlebnisse der letzten Wochen, an die Krisen der Monate davor, an die zu vielen Jahre der Stagnation an der Universität(1). Vielleicht ergibt sich nach all dem nun die Chance zur Freiheit? Als er jetzt mit gut sechzig Stundenkilometern von Berlin(2) an die Ostsee(1) prescht, erscheint auf einmal alles möglich. In weniger als zwei Tagen wird Søren Kierkegaard wieder in Kopenhagen(5) sein.[3]

Es ist Ende Mai 1843 und Kierkegaard ist eben 30 geworden. Drei Monate zuvor hat er Entweder – Oder veröffentlicht, ein beeindruckendes und eigenwilliges philosophisches Werk, das schnell für eine Sensation gesorgt hat. Einen Großteil des Buches hat er in Berlin(3) geschrieben, im Winter 1841, der bisher produktivsten Phase seines Lebens. In der Hoffnung auf ein erneutes Schaffenshoch ist er für einen kürzeren Besuch nach Berlin zurückgekehrt. Und tatsächlich ist er mit zwei Manuskripten in der Tasche in den Zug gestiegen. Er hat Die Wiederholung beendet, die Geschichte eines Mannes, der sich wie Kierkegaard mit einer jungen Frau verlobt, dann aber einen Sinneswandel erlebt und die Verbindung löst. Erzählt wird die Geschichte von einer weiteren Person, die – wieder wie Kierkegaard – zum zweiten Mal nach Berlin reist, dort dieselbe Unterkunft am Gendarmenmarkt(1) bezieht und sich das gleiche Stück im selben Theater anschaut. Teils Novelle, teils Manifest, stellt das bemerkenswerte kleine Buch eine neue Art der Philosophie vor, in der die Wahrheit nicht gewusst werden kann, sondern auf irgendeine Weise gelebt werden muss.

Das andere, noch unvollendete Buch heißt Furcht und Zittern. Es handelt von der Geschichte Abrahams(2) und Isaaks(1), wie sie im 22. Kapitel des Buches Genesis erzählt wird. Gott befiehlt Abraham(3), Isaak(2) zu opfern, und so ziehen Vater und Sohn drei Tage lang zum Berg Moria, wo Abraham(4) Isaak(3) Hände und Füße bindet und sein Messer zückt, um zu tun wie ihm geheißen – doch dann erscheint ein Engel und sagt ihm, er soll stattdessen einen Widder töten. Und Abraham(5) und Isaak(4) wandern wieder drei Tage nach Hause. Was erzählt der alte Mann wohl seiner Frau Sarah(1), als sie ihn fragt, wo die beiden waren? Was geht in Abraham(6) vor? Die biblische Erzählung sagt uns nichts über Abrahams(7) Gedanken, Gefühle oder Absichten. Wir können sie uns nur vorstellen. Mit seinem Buch rekonstruiert Kierkegaard Abrahams(8) Seelenleben, und das auf besonders kreative Weise.

Manche werden vielleicht einwenden, dass poetische Gedanken wie diese nichts mit Philosophie zu tun haben, doch Kierkegaard zieht wichtige philosophische Schlüsse aus dem Gang nach Moria. Er ist fasziniert von Abrahams(9) dunklem Geheimnis und freut sich vielleicht an dem Gedanken, dass sein Leben ein ähnliches Mysterium bereithält, das dann andere ausmalen, erklären oder entschlüsseln: »Derjenige, der dieses Rätsel erklärt hat, er hat mein Leben erklärt. Doch wer wäre in meiner Zeit, der es verstünde?«[4] Kierkegaard hofft, dass ihm Furcht und Zittern Ruhm als Schriftsteller einbringt, dass sein Buch in viele Sprachen übersetzt und von ganzen Gelehrtengenerationen gelesen wird.

Der Potsdamer Bahnhof in Berlin(1), 1843

»Ich habe nie so stark gearbeitet wie jetzt«, schrieb er kurz vor der Abreise aus Berlin(4) seinem engsten Freund Emil Boesen(1). »Jeden Morgen gehe ich ein klein bisschen aus. Darauf komme ich nach Hause und sitze auf meinem Zimmer bis gegen drei Uhr ohne Unterbrechung. Ich kann kaum aus den Augen sehen. Darauf schleiche ich an meinem Stocke hin in die Restauration, bin aber so schwach, dass ich glaube: falls einer meinen Namen riefe, fiele ich um und wäre tot. Darauf gehe ich nach Hause und fange wieder an.« Abgesehen von seiner körperlichen Verfassung, so kündigt er seinem Freund(2) an, wird er ihn glücklicher denn je antreffen. Obgleich er in eine neue Krise gerät, ist er froh, seine Vergangenheit in Worte fassen zu können. »In den vergangenen Monaten hatte ich in Indolenz ein richtiges Sturzbad aufgepumpt, jetzt habe ich an der Schnur gezogen, und die Ideen purzeln über mich nieder; gesunde, frohe, wohlgedeihende, muntre, gesegnete Kinder, leicht geboren, jedoch alle mit dem Muttermal meiner Persönlichkeit.«[5]

Schreibend in Berlin(5), aufgeladen und aufgekratzt durch stark gezuckerten Kaffee, fühlt sich Kierkegaard ganz bei sich – und doch von einer Kraft angetrieben, die nicht nur aus ihm selbst kommt. Er ist einem ewigen Kreislauf von Verzweiflung und Überschwang unterworfen, den er als spirituelle Schule begreift. In seinem Tagebuch beschreibt er die depressiven Phasen dieses Zyklus: »Ab und zu werde ich in das finstere Loch hinabgesteckt, dort krieche ich in Qual und Schmerz herum, sehe nichts, keinen Ausweg.« Dieses Leiden ist offenbar Voraussetzung für das Kommende, wie die Wehen einer Frau, die ein Kind gebärt: »Da erwacht plötzlich ein Gedanke in meiner Seele, so lebendig als ob ich ihn niemals zuvor gehabt hätte, wenn er mir auch nicht unbekannt ist […] Wenn er sich nun in mir festgesetzt hat, dann werde ich ein wenig verwöhnt, ich werde in die Arme geschlossen, und ich, der ich wie eine Heuschrecke eingeschrumpft war, wachse nun wieder aus, gesund, feist, froh, warmblütig, geschmeidig wie ein Neugeborenes. Danach muss ich gleichsam mein Wort darauf geben, dass ich diesen Gedanken bis zum Äußersten verfolgen werde, ich setze mein Leben als Pfand ein, und nun bin ich eingespannt. Innehalten kann ich nicht und die Kräfte halten aus. Dann werde ich fertig und nun beginnt alles von vorn.«[6] Sein Schaffensdrang mag Segen oder Fluch sein, auf jeden Fall wirkt er unausweichlich. Die Ideen durchströmen ihn als führten sie ein eigenständiges Dasein.

Wie die meisten Heimreisenden ist Kierkegaard nicht mehr ganz derselbe, als der er von zuhause aufgebrochen ist. Die Welt mag sich in den Anfängen der »Eisenbahnmanie« befinden, aber er ist sicher nicht der Erste, der allein im Zug sitzt und darüber nachdenkt, welches Leben er hinter sich lässt und welche Ziele noch vor ihm liegen. Hypochondrie und Aberglaube haben sich zusammengetan, um ihn davon zu überzeugen, dass er innerhalb der nächsten vier Tage sterben wird, aber seine kurze Zukunft strahlt heller als zuvor, da er die beiden Manuskripte in seiner Tasche weiß. Er sieht sie in dickes blaues Papier gebunden, wie sie in Reitzels Buchhandlung(1) ausliegen und das verknöcherte Christentum aufschrecken. Vielleicht fühlt er sich freier und von innen gestärkt, zugleich wird er sich aber auch Sorgen machen, was – und wer – ihn zuhause erwartet.

Das erste Mal, als er Berlin(6) besuchte, ließ er Regine(3) Olsen hinter sich. Der 28-Jährige, eben zum Magister der Theologie ernannte junge Mann wollte keine akademische Laufbahn verfolgen, er floh vor den Folgen seiner Entlobung. Seitdem sind anderthalb Jahre vergangen: Regine(4) ist immer noch bei ihrer Familie in Kopenhagen(6), in seinen Tagebüchern schreibt er weiter über »sie«. Als er nun zum zweiten Mal in Berlin ist, lauern ihm an jeder Ecke Erinnerungen an die schmerzliche Trennung auf und er gelangt zu der Einsicht: »Hätte ich Glauben gehabt, so wäre ich bei Regine(5) geblieben.«[7] Doch inzwischen hat Kierkegaard seinem Leben eine andere Richtung gegeben. Er weiß, dass er niemals heiraten wird. Wenn er Regine(6) in der Kirche oder auf der Straße sieht – was oft geschieht – ist er nicht fähig, mit ihr zu reden. Das Bild ihres Gesichts und das Echo ihrer letzten, verzweifelten Worte an ihn überfluten seine Seele mit verwirrenden, widersprüchlichen Gefühlen, seine Gedanken an sie vermischen sich mit seinen Bemühungen, sich selbst zu verstehen.

Doch er freut sich auch darauf, nach Hause zu kommen. Denn dann kann er wieder unter den Kastanien- und Lindenbäumen am Philosophenweg(1) spazieren, und über die Kirschbaumalleen entlang der hohen Befestigungsmauern, die seine geliebte Heimatstadt wie eine grüne Krone umgeben und jeden Frühling aufs Neue erblühen.[8] Er sehnt sich danach, am Sonntagnachmittag die Gärten in Frederiksberg(2) aufzusuchen, wo er im Schatten sitzend eine Zigarre raucht und zuschaut, wie die Dienstmädchen ihren freien Tag genießen. Gerade jetzt, wo die Luft wärmer geworden ist und die Mädchen nicht mehr in dicke Schals eingehüllt sind, ist es dort besonders reizvoll.

Er kehrt in seine großzügige Wohnung an der Nørregade(1) zurück, die nahe der Universität(2) und der Kopenhagener Frauenkirche(1) gelegen ist. Von dort schwirrt er jeden Morgen aus und taucht ins Stadtleben ab, er läuft sämtliche Viertel ab, besteigt den Wall und umrundet die Seen, er wetzt sich die Stiefel ab. Auf diesen täglichen Spaziergängen trifft er an jeder Ecke Bekannte, viele haken sich bei ihm ein, laufen eine Weile mit und unterhalten sich mit ihm. Kierkegaard redet dabei natürlich am meisten. Es gibt niemanden, dessen Gedanken eleganter fließen und springen würden als seine und niemanden, dessen Verstand gewitzter wäre. Er wirft einen ulkigen Zylinderhutschatten, wenn er die Straßen kreuzt, um dem Sonnenlicht zu entgehen, aber seine Begleiter finden sich gern mit seinem schiefen Gang und den großartigen Gesten seines freien Arms ab, in dessen Hand unweigerlich ein Spazierstock oder eingerollter Regenschirm steckt. Vorbeigehende nehmen teils interessiert, teils ängstlich seinen stechenden Blick wahr, mit seinen leuchtenden blauen Augen scheint er Körper und Seele eines jeden zu mustern.

Seit im Februar Entweder – Oder erschienen ist, kennen ihn noch mehr Menschen und möchten mit ihm sprechen. Kierkegaard ist neugierig auf andere, aber er benötigt auch Zeit für sich – Zeit zum Schreiben! Wenn er von seinen »Menschenbädern« nach Hause zurückkehrt, hört er nicht auf zu laufen: Er schreitet seine abgedunkelte Wohnung ab, während er sich den nächsten Satz überlegt, und kehrt dann an sein Schreibpult zurück. So geht er stundenlang hin und her und füllt Seite um Seite mit seinen Gedanken.

Park und Schloss Frederiksberg(3), Aquarell von Peter Christian Klæstrup(1)

Trotz der neuartigen Schnelligkeit der Dampflok dauert es noch eine Stunde, bis der Zug in Angermünde(1) ankommt. Wenn er die Augen schließt, sieht er Abraham(10) auf dem Nachhauseweg vom Berg Moria. Wer ist er, nachdem er ein Feuer gemacht, seinen Sohn gefesselt und das Messer in die Hand genommen hat? Was hat er Isaak(5) gesagt, während die beiden heimzogen? Ist er Gott nähergekommen auf dem Gipfel dieses entlegenen Berges, und wie kann er Sarah(2) erklären, dass er bereit war, das Leben ihres Kindes zu opfern?

Kierkegaard dagegen war nur in Berlin(7), das sich nicht sehr unterscheidet von der urbanen dänischen Welt, die er einen Monat zuvor verlassen hat. Und anders als Abraham(11) brauchte er kein Messer für seine Reise, nur einen Stift und sein Notizbuch. Dennoch hat er den Eindruck, dass er sein Leben mit Regine(7) geopfert hat, und dazu seine Ehre und den guten Namen seiner Familie – für etwas, das sich nur schwer erklären lässt. Er hat das Versprechen gebrochen, die junge Frau zu heiraten, die ihn liebt, er hat sie verletzt und gedemütigt. Alle in Kopenhagen(7) wissen davon, alle sind sie der Ansicht, dass er falsch gehandelt hat. Und jetzt trägt er Notizbücher voller Ideen nach Hause, die so vieles in Frage stellen, was die Einwohner seiner Stadt zu wissen meinen. Kierkegaard bringt keine neue Philosophie aus Deutschland(1) mit, er zieht nur in Zweifel, ob Philosophie die richtige Methode ist, um die Wahrheit zu erkennen, ob die Taufe einen Christen aus einem Menschen macht, ob Menschsein etwas ist, das sich von selbst ergibt.

Natürlich stellen Philosophen Fragen, doch Kierkegaards Fragen sind anderer Art. Sie kommen den Fragen eines Sokrates(2) gleich, seines Lieblingsphilosophen, sie rufen eher Verwirrung als Antworten hervor. Aber Verwirrung ist ein fruchtbarer Boden, auf dem Weisheit gedeihen kann. Während sich alle Bürger im antiken Athen ihres Menschseins absolut sicher waren, widmete sich Sokrates(3) der Frage: Was heißt es eigentlich, Mensch zu sein? Und daraus ergaben sich weitere Fragen: Was ist Gerechtigkeit? Was ist Mut? Woher stammt unsere Erkenntnis? Die griechischen(2) Gelehrten hatten kluge Antworten auf diese Fragen parat, doch Sokrates bohrte weiter, bis ihre Feststellungen als nicht mehr folgerichtig oder gar paradox in sich zusammenbrachen. Der gewitzte Philosoph, der scheinbar nach der Wahrheit suchte, hatte sie nur ausgetrickst! Doch Sokrates(4) war tatsächlich auf der Suche nach Erkenntnis, seine Fragen waren doppeldeutig und aufrichtig zugleich: Sie führten in eine neue Richtung – weg von dem, was alle Welt als richtig und vernünftig erachtete, hin zu einer höheren Wahrheit.[9]

In Platons(3) Der Staat erzählt Sokrates(5) eine Parabel von Aufstieg und Wiederkehr, die an Abrahams(12) Reise zum Berg Moria erinnert. »Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung«, sagt Sokrates, »in der sie gefesselt sind und in nur eine Richtung auf eine Wand schauen. Hinter ihnen brennt ein Feuer, davor wird ein endloses Puppentheater aufgeführt, dessen Schatten auf die Mauer geworfen werden, auf welche die Menschen blicken. Diese Schatten sind alles, was sie kennen. Einer der Gefangenen ist ein Philosoph, ein Freund der Weisheit, der entkommt und in das gleißende Sonnenlicht über der Höhle tritt. Verwundert bewegt er sich im Licht, sein Blick ist verwandelt. Dann steigt er wieder hinab zu den anderen(6)

»Das Höhlengleichnis«, Kupferstich von Jan Saenredam(1), 1604

Sokrates(7) erzählt diese Geschichte, weil er seine Schüler anregen will, darüber nachzudenken, welche Gefahren sich ergeben, wenn man in einer Welt lebt, deren Grundfeste erschüttert wird. Die schwach beleuchtete Höhle, in der die Menschen gefangen gehalten werden, ohne zu wissen, wie die Schatten entstehen, die sie für die Realität halten, ist Sinnbild für die menschliche Existenz. Die Gefangenen sind wir, erklärt Sokrates. Die Höhle entspricht vielleicht dem menschlichen Bewusstsein, mit seinen von körperlosen Erscheinungen geprägten Gedanken. Sie könnte aber auch für die Gesellschaft stehen, denn um das Schattenspiel hat sich ein Miteinander entwickelt: Die Gefangenen fragen sich gegenseitig, was sie über die Schatten wissen, und sie stellen Wetten an, was diese wohl als Nächstes tun werden. Das Gleichnis zeigt aber auch, dass unser Verstand über die gewohnten Grenzen hinausgehen kann und dass es eine Welt hinter den Erscheinungen gibt. Denn jenseits der Höhle eröffnen sich ein anderes Licht und eine andere Landschaft. Die erste Aufgabe des Philosophen besteht nun darin, sich von Illusionen frei zu machen, sich umzuwenden und nachzuschauen, wie das Schattenspiel hervorgerufen wird. Er muss einen Weg aus der Dunkelheit finden und die Dinge im Licht der Sonne in ihrer ganzen Klarheit erkennen. Dieser Weg ist eine Befreiung, eine Aufklärung – eine wunderbare Erfahrung, wie man meinen möchte. Doch Sokrates(8) beharrt darauf, dass der Philosoph in die Enge der Höhle zurückkehren und seine Einsichten mitteilen muss. Wird er die Welt der Gefangenen verwandeln können? Oder werden sie sich gegen ihn wenden, ihn beschimpfen und sich dagegen wehren, dass er ihre Sichtweise in Frage stellt?[10]

Sokrates(9) hat seine Mitbürger provoziert, und am Ende wurde ihm vorgeworfen, er verderbe die Jugend. Man klagte ihn des Frevels gegenüber den Göttern an. Vor Gericht weigerte er sich, seine Ansichten zu widerrufen und erklärte: »[…] solange ich noch atme und es vermag, werde ich nicht aufhören, nach Weisheit zu suchen und euch zu ermahnen und zu beweisen, wen von euch ich antreffe, mit meinen gewohnten Reden; wie: Bester Mann, als ein Athener aus der größten und für Weisheit und Macht berühmtesten Stadt, schämst du dich nicht für Geld zwar zu sorgen wie du dessen aufs meiste erlangst, und für Ruhm und Ehre, für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, dass sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht und hieran willst du nicht denken?« Sein beständiges Fragen war unvermeidlich: »Denn so, wisst nur, befiehlt es der Gott. Und ich meinesteils glaube, dass noch nie größeres Gut dem Staate widerfahren ist als dieser Dienst, den ich dem Gott leiste.« Sokrates(10) vergleicht sich mit einem Sporn, der das träge Ross des Staates antreibt: »[…] der ich euch einzeln anzuregen, zu überreden und zu verweisen den ganzen Tag nicht aufhöre, überall euch anliegend.« Dass er die Athener derart aufwühlt, geschieht nur zu ihrem Besten. Doch sie danken es ihm nicht: »Ihr aber werdet vielleicht verdrießlich, wie die Schlummernden, wenn man sie aufweckt, um euch stoßen und mich, dem Anytos folgend, leichtsinnig hinrichten, dann aber das übrige Leben weiter fort schlafen, wenn euch nicht der Gott wieder einen andern zuschickt aus Erbarmen.«[11] Im Anschluss an Sokrates(11)’ Verteidigungsrede verurteilte ihn das Tribunal aus Athener Bürgern zum Tode.

Vor zwei Jahren, während der Verlobungszeit mit Regine(8), hat Kierkegaard seine Doktorarbeit mit dem Titel »Der Begriff der Ironie in ständiger Rücksicht auf Sokrates(12)« geschrieben. Ironie ist eine besondere indirekte Sprechweise, die unterschwellig Fragen aufwirft und ausdrückt, was nicht direkt gesagt werden kann. Eine ironische Äußerung stellt sich selbst in Frage, indem sie etwas vermittelt, das über den Wortsinn hinausgeht – etwa, indem man bewusst etwas Naives oder Dummes sagt, um Grundannahmen zu erschüttern.[12] Sokrates(13) war ein Meister der Ironie, er erhob sie zur philosophischen Methode, ja zur Lebensweise. Er stellte Fragen, die seine Schüler erkennen ließen, dass sie wie Gefangene in einer Höhle lebten – beschäftigt mit unwesentlichen Schatten, umgeben von hohen, dunklen Mauern, aus denen sie sich aber befreien können. Mithilfe von Ironie gelang es Sokrates(14), ihre Sichtweise auf diese enge, selbstbezogene Scheinwelt zu überdenken.

In den intellektuellen Kreisen, in denen sich Kierkegaard bewegt, ist Ironie modern geworden. Das Thema seiner Dissertation ist klug gewählt, denn es gibt ihm die Möglichkeit, Fichte(1) und Hegel(2) zu zitieren, Friedrich Schlegels(1) Roman Lucinde zu besprechen und seine Kritik an den modernen deutschen Schriftstellern zu formulieren. Ironie spielt in Schlegels Vorstellung von romantischer Literatur eine große Rolle. Sie ist »die Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend, oder Genialität(2)«.[13] Die neue Dichtung sollte keine absolute Realität darstellen, sondern das Schaffen reflektieren: Der Dichter tritt in seinem Werk in Erscheinung.