Über Patrizia Schlosser

Foto: Fredy Gareis

Patrizia Schlosser ist Podcasterin, Reporterin und Filmemacherin. Sie fing als Journalistin für den Bayerischen Rundfunk an und arbeitet heute u.a. für das investigative Reportage-Format Panorama – die Reporter im NDR Fernsehen, sowie für den auf jüngere Zuschauer ausgerichteten YouTube-Kanal STRG_F. Für ihren Podcast Im Untergrund erhielt sie den Deutschen Radiopreis 2018 in der Kategorie Beste Sendung. Sie lebt in Hamburg und München.

Fußnoten

Die Haftbefehle ergingen zu unterschiedlichen Zeiten: Der Haftbefehl auf Ernst-Volker Staub wurde am 13. April 1991 ausgestellt, der auf Daniela Klette am 28. Juli 1993 und jener auf Burkhard Garweg am 21. Dezember 1993.

Lutz Gaebel ist übrigens inzwischen in Rente.

Oliver Tolmein: »Ein VS-Stern auf allen Wegen«, in: Konkret, 1. Ausgabe 1997, 12.01.1997, S. 23.

Andreas Fanizadeh: »Du schaust immer, ob jemand hinter dir ist«, in: taz. am wochenende, 20.03.2010, S. 1617.

O. A.: »Wen suchen wir eigentlich?«, in: Der Spiegel, Ausgabe 46/1977, 07.11.1977, S. 2633.

Das Interview kann man sich auf YouTube ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=eILIy-HXj-8

Inzwischen schreibt die Staatsanwaltschaft Verden nur noch neun der zwölf Raubüberfälle dem mutmaßlichen RAF-Trio zu. Bei drei Überfällen auf Supermärkte, in Stade, Celle und Osnabrück, bezweifelt die Staatsanwaltschaft eine Täterschaft besagten Trios. Siehe: Ansgar Siemens: »Staatsanwälte bezweifeln Vorwürfe gegen RAF-Rentner«, in: Spiegel Online, 31.03.2019, https://www.spiegel.de/panorama/justiz/raf-rentner-staatsanwaelte-bezweifeln-vorwuerfe-gegen-staub-klette-und-garweg-a-1258889.html

Vgl. dazu Maike Weißpflug: Hannah Arendt, Matthes & Seitz, Berlin 2019.

RAF-Erklärung vom 29. November 1996, in: Rote Armee Fraktion – Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, IDVerlag, Berlin 1997, S. 502.

Manche Experten sprechen auch von fünf Generationen statt drei, da innerhalb der zweiten Gruppe aufgrund von Verhaftungen mehrmals das Personal wechselte, sodass die einzelnen Anschläge von ganz unterschiedlichen Leuten begangen wurden.

Alexander Straßner: Die dritte Generation der »Roten Armee Fraktion«. Entstehung, Struktur, Funktionslogik und Zerfall einer terroristischen Organisation, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003.

Sarah Khan: »Generation Unwichtig. Der Burkhard war in der RAF? Na so was!«, in: Süddeutsche Zeitung am Wochenende, 14./15. April 2007, S. 3.

RAF zur Hafenstraße, Erklärung vom 24.9.1990, in: Rote Armee Fraktion – Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, ID Verlag, Berlin 1997, S. 399.

Radiointerview mit Moderator Butz Peters, in: Redezeit, NDR 4, August 1990.

Barbara Bollwahn: »Mein subversives Sitzkissen«, in: taz, die tageszeitung, 16.02.2005, S. 14.

Christoph Scheuermann: »Mein Großcousin Thomas, der Terrorist«, in: Der Spiegel, Ausgabe 52/2017, S. 54.

Später wurde einer aus der Gruppe, Bernhard Heidbreder, tatsächlich einmal enttarnt und verhaftet – allerdings nicht nach Deutschland ausgeliefert, sondern wieder freigelassen.

Tobias Wunschik: Baader-Meinhofs Kinder. Die zweite Generation der RAF, Westdeutscher Verlag, Opladen 1997.

Edmund L. Andrews und John Kifner: »George Habash, Palestinian Terrorism Tactician, Dies at 82«, in: The New York Times, 27. Januar 2008, S. A31.

Egmont R. Koch: »Die Spur der Bombe – Neue Erkenntnisse im Mordfall Herrhausen«, ARD, 01.12.2014.

Katharine Viner: »I made the ring from a bullet and the pin of a hand grenade«, in: The Guardian, 26. Januar 2001, https://www.theguardian.com/world/2001/jan/26/israel

Andreas Schmidt: »Neue Heimat Hafenstraße«, in: Die Welt am Sonntag, 3. Juli 1988.

Saskia Lützinger: »Die Sicht der Anderen«, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Polizei + Forschung, Bd. 40, Wolters Kluwer, Neuwied 2010.

Robert Leicht: »Alles was Recht ist«, in: Die Zeit, Nr. 38, 13.09.2007, S. 1.

Giovanni di Lorenzo und Helmut Schmidt, »Ich bin in Schuld verstrickt«, in: Die Zeit, 30.08.2007, S. 18.

Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU).

Michael Sontheimer: »Drei Spalten Widersprüche«, in: taz, die tageszeitung, 12.09.2011.

Felix Moeller: Die Sympathisanten – Unser deutscher Herbst, 2018.

Sven Felix Kellerhoff: »München 1972 – Das Protokoll einer Katastrophe«, in: Die Welt, 05.08.2012.

Felix Bohr et al.: »Die angekündigte Katastrophe«, in: Der Spiegel, Ausgabe 30/2012, 23.07.2012, S. 42.

O. A., in: Der Spiegel, Ausgabe 30/1993, 26.7.1993, S. 28-33.

Rede von Ludwig Zachert, Präsident a.D. des BKA anlässlich des 60-jährigen Bestehens des BKA: »60 Jahre Staatsschutz im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit: Historie des BKA – Von den Gründungsjahren zur Gegenwart«, S. 8. Siehe: https://docplayer.org/35092753- Historie-des-bka-von-den-gruendungsjahren-zur-gegenwart.html

Hermann Vinke und Gabriele Witt (zusammengestellt und kommentiert): Die Anti-Terror-Debatten im Parlament, Protokolle 19741978, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 19.

Butz Peters: RAF: Terrorismus in Deutschland, DVA, Stuttgart 1991, S. 171.

Anne Amerie-Siemens: Ein Tag im Herbst. Die RAF, der Staat und der Fall Schleyer, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2017, S. 57.

O. A., »Mord beginnt beim bösen Wort«, in: Der Spiegel, Nr. 41/1977, 3.10.1977, S. 30.

Günther Nollau: »Sympathie allein ist kein Tatbeitrag«, in: Der Spiegel, Ausgabe 43/1977, 17.10.1977, S. 206.

O. A., »Der Bürger ruft nach härteren Strafen«, in: Der Spiegel, Ausgabe 39/1977, 19.09.1977, S. 26.

Yvonne Hötzel: »Debatten um die Todesstrafe in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1990«, in: Juristische Zeitgeschichte, Bd. 41, de Gruyter, Berlin/New York 2010, S. 259.

Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, C. H. Beck, München 2015, S. 21

Interview mit Christoph Seidler, »Hoffentlich zählen Fakten«, in: Der Spiegel, Ausgabe 45/1996, 04.11.1996, S. 50.

Ebd., S. 50.

RAF-Erklärung vom 29. November 1996, in: Rote Armee Fraktion – Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, ID Verlag, Berlin 1997, S. 502.

Gerd Rosenkranz: »Wir waren sehr deutsch«, in: Der Spiegel, Ausgabe 42/1997, 13.10.1997, S. 170.

Holger Schmidt: »Die RAF-Gespenster«, 30.03.2011, siehe https://www.swr.de/blog/terrorismus/2011/03/11/die-raf-gespenster/

»Brief an die Junge Welt«, Erklärung vom 9.12.1996, in: Rote Armee Fraktion – Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, ID Verlag, Berlin 1997, S. 508.

Felix Bohr et al.: »Die angekündigte Katastrophe«, in: Der Spiegel, Ausgabe 30/2012, 23.07.2012, S. 44.

Michael Borgstede: »Und niemand geht raus, um ihm zu helfen«, in: Die Welt, 31.08.2012, S. 8.

Christof Wackernagel: »Ein Platz an der Sonne«, in: taz, die tageszeitung, 7.5.1984, S. 16.

Dieses Buch basiert auf einer Recherche, die ich ursprünglich für den Podcast Im Untergrund begonnen hatte. Die gemeinsame Spurensuche mit meinem Vater dauerte ein Jahr, bis in den Herbst 2017, dann wurde der Podcast veröffentlicht. Die Recherche ging jedoch weiter, hatte sich gewissermaßen verselbstständigt. Dank der zahlreichen Reaktionen auf den Podcast taten sich neue Spuren und Hinweise auf, neues Material kam zusammen. Dies findet nun Eingang in dieses Buch, genau wie viele Szenen und Informationen, die in der Audio-Serie nicht berücksichtig werden konnten.

Der Auslöser dafür, diese Recherche noch einmal in Buchform aufzuarbeiten, war jedoch ein anderer: die Flut an Zuschriften von Hörerinnen und Hörern, die berührt waren von den Auseinandersetzungen zwischen mir und meinem Vater. Viele schilderten mir ihre eigenen Erfahrungen mit der RAF-Zeit. Einige bedauerten, sich nicht mit ihren Eltern über das Thema ausgetauscht zu haben.

Wenn dieses Buch Leser motivieren sollte, sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu beschäftigen, hat es seinen Zweck erfüllt. Das Kapitel RAF ist nach wie vor nicht abgeschlossen.

Nachts in Jordanien

Mein Vater und ich liegen nebeneinander auf unseren Hotelpritschen. Der Straßenlärm von Amman dringt durch das Fenster herein: Autohupen, Rollergeknatter, vom Wind davongetragene Fetzen arabischer Popmusik.

»Also, wo soll ich anfangen?«, fragt er leise. Er hat sich auf den Rücken gedreht und starrt an die Decke. Der 5. September 1972 während der Olympischen Spiele in München. Kommando »Schwarzer September«, acht palästinensische Terroristen, neun israelische Geiseln, ein Flugzeug, ein Blutbad.

Ich schalte das Aufnahmegerät ein und lehne mich zu meinem Vater hinüber.

Dass er bei diesem ersten Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als Polizist im Einsatz war, wusste ich. Doch was er in dieser Septembernacht vor 45 Jahren genau erlebte, das hat er mir noch nie erzählt.

»Nicht, dass ich wieder Albträume kriege«, sagt er.

Ich zögere. Vielleicht ist das doch keine gute Idee.

Die Sonne geht unter. Die Dämmerung legt sich über die Stadt.

Der Ruf eines Muezzins und das Gehupe des Feierabendverkehrs verbinden sich zum Klangteppich der hereinbrechenden Nacht. Es wird dunkler im Zimmer. Eine Leuchtreklame gegenüber dem Hotel wirft ein rätselhaftes Muster an die kahle Wand. Während das Licht schwindet, erscheint die Vergangenheit. Mein Vater beginnt zu erzählen.

Sie sind wieder da

Ein halbes Jahr vorher:

Wenn ich zu Hause anrufe, muss ich die Stimme meines Vaters nicht hören, um zu wissen, dass er es ist, der den Hörer abgenommen hat. Bei ihm gibt es immer ein knisterndes Geräusch und dann ein paar Sekunden Pause, bevor er spricht.

»Hallo, Papa, wie geht’s?«

»Ja die Pati … geht scho’.«

Die Antwort soll mich zufriedenstellen, aber mich kann er nicht täuschen.

»Und? Was machst du so?«

»Nichts! Was fragst denn immer?«

Ich sehe ihn vor mir, wie er in seinem schwarzen Ledersessel liegt, die Füße auf einem Hocker, die Birkenstocks auf dem Wohnzimmerteppich. Bestimmt bebt sein Kopf wegen meiner Frage gerade vor Ärger.

Diese Kopfbewegung meines Vaters, eine Art innerliches Erdbeben, ist Alarmstufe 1.

Wenn ich jetzt weitermache, könnte das einen Wutausbruch zur Folge haben.

Ich räuspere mich.

»Hast du jetzt eigentlich dieses Ehrenamt bei der ambulanten Krankenpflege übernommen?«

»Ach, Pati!«

»Ich frag ja nur.«

»Okay, okay!«

Ich schweige einen Moment.

Manchmal habe ich das Gefühl, er verbringt seine Rente weniger in der Gegenwart und mehr in der Vergangenheit, innerhalb seines Geistes, eingeschlossen in Erinnerungen. Meine Mutter hat es kommen sehen und ihm zu Beginn seines Rentnerdaseins den Staubsauger in die Hand gedrückt. Mein Vater putzt auch das Bad und spült Geschirr. Doch solche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gleichen den Verlust einer lebenslangen Aufgabe nicht aus.

42 Jahre lang war mein Vater Polizist.

Ich möchte mit beiden Händen durch die Leitung greifen, ihn an den Schultern packen und wachrütteln. Doch ich tue das, was ich immer tue, und beende schnellstmöglich das Gespräch. Ich ertrage sein selbstgewähltes Dahindämmern nicht.

»Gibst du mir mal die Mama?«

Im Gegensatz zu meinem Vater kann ich mit meiner Mutter unbeschwert reden. Wir telefonieren oft und ohne Probleme eine Stunde lang.

Ich höre, wie mein Vater die Holztreppe in den ersten Stock hochsteigt, wo meine Mutter im alten Kinderzimmer meines Bruders, ihrem »Arbeitszimmer«, sitzt und ihre morgigen Krankenbesuche für den ambulanten Pflegedienst vorbereitet. In die schweren Schritte meines Vaters mischt sich das Trippeln von Hundepfoten. Das ist Resi, mein trojanischer Hund. Ich habe ihm die schwarze Labradordame mit den weißen Pfoten vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt. Mein Hintergedanke war, dass er dann jeden Tag rausmuss. Wenigstens zum Gassi gehen.

Es hat nicht geklappt. Meine Mutter geht jetzt mit Resi in die Hundeschule.

Als ich die Nachricht im Radio höre, die das Verhältnis zwischen mir und meinem Vater auf den Kopf stellen wird, recherchiere ich gerade zu einem Loch. Ein Loch im Boden eines Kaffs im Bayerischen Wald. Es ist nicht wirklich der Grund, warum ich

Es geht um drei Linksextremisten, eine Frau und zwei Männer, die zur RAF, der »Roten Armee Fraktion«, gehört haben sollen: Daniela Klette, Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg. Vor über 25 Jahren wurden auf sie Haftbefehle wegen »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« ausgestellt.1 Die drei konnten nie gefasst werden, blieben wie vom Erdboden verschluckt, vergessen von der Öffentlichkeit.

Bis jetzt.

DNA-Spuren sollen nun belegen, dass dieses Trio seit siebzehn Jahren Überfälle auf Geldtransporter und Supermärkte in Deutschland begeht. Das Landeskriminalamt Niedersachsen hat mit Hilfe der neuen Spuren eine Serie von zwölf Rauben rekonstruiert, für welche die drei verantwortlich sein sollen, der erste 1999, der vorerst letzte Mitte 2016. Die Ermittler vermuten, dass die Gruppe jederzeit wieder zuschlagen könnte.

Ist das zu fassen? Die RAF löste sich 1998 auf, und trotzdem gibt es da draußen Ex-Mitglieder, die sich noch immer verstecken. Unbemerkt leben sie unter uns und finanzieren ihr Dasein mit Raubüberfällen. Wer sind diese drei letzten nie gefassten RAF-Mitglieder, und wie gelingt es ihnen, seit einem Vierteljahrhundert im Untergrund zu leben?

Ich trockne mir die Hände ab, klappe den Laptop auf und lese mich durch die Schlagzeilen. »Sie sind wieder da!«, »Die unbekannte RAF-Generation«, »Die RAF-Rentner-Fraktion!« Die Medien überschlagen sich vor Sensationslust, fasziniert vom Mythos der Gewalt.

Die RAF war eine linksextremistische Gruppe, die der Bundesrepublik in den siebziger Jahren den Krieg erklärte und bis Anfang

Bis heute ist dieses Kapitel deutscher Geschichte nicht abgeschlossen. Zum einen, weil die Verantwortlichen vieler Mordanschläge nie identifiziert werden konnten. Zum anderen, weil sich die letzten Mitglieder auch nach der Selbstauflösung nicht der Polizei stellten, sondern im Untergrund blieben. Wer die Auflösungserklärung 1998 verfasste, weiß man nicht. Die inhaftierten und inzwischen wieder entlassenen Ex-RAF-Mitglieder schweigen eisern, die linke Szene ebenso.

Die letzte RAF-Gruppe, die sogenannte 3RAF-Generation könnte aus fünf oder fünfzehn Mitgliedern bestanden haben. Man weiß es nicht, nimmt aber an, das jetzt noch gesuchte Trio gehörte dazu. Warum eigentlich?

Als ich im Internet nach Fachliteratur zu den dreien suche, stelle ich fest, wie wenig über sie publik ist. Historiker und RAF-Experten haben sich kaum mit ihnen beschäftigt. Bekannt sind gerade einmal die Grunddaten – Geburtsort, Studium, Zugehörigkeit zur linken Szene, mögliche Anschlagsbeteiligungen. Auf welcher Basis nimmt man an, dass sie der RAF angehörten? Nüchtern betrachtet muss man wohl sagen: Eigentlich ist es nicht sicher, dass die drei Mitglieder waren.

Alles könnte ganz anders sein.

Drei Menschen verschwanden Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre – und das war’s.

Ich überlege gerade, wie man theoretisch mehr über sie herausfinden könnte, da klingelt mein Handy. Ich starre auf die angezeigte Nummer. Es ist die meines Vaters. Mein erster Gedanke ist: Irgendetwas muss passiert sein. Sonst würde er mich doch nie anrufen. Ich nehme ab.

»Hast scho’ g’hört?«, sagt er ohne Begrüßung.

»Was ist denn los?«

»Das RAF-Trio! Zwölf Überfälle! Mit Schnellfeuergewehren und einer Panzerfaust!«

»Das ist doch vorbei, dieser Terror, hab ich mir g’dacht!«, redet er weiter, mehr mit sich selbst als mit mir. Ein solcher Redefluss passt gar nicht zu ihm.

»Ich hab gedacht, der ganze Spuk mit der RAF ist g’essen und jetzt tauchen die wieder auf!«, murmelt er. Er hört sich an wie jemand, den die Gespenster seiner Vergangenheit einholen. Ich frage mich, wo er gerade ist, was er vor seinem inneren Auge sieht.

Ich habe keine Ahnung.

Was weißt du schon über die eigenen Eltern? Wer sie waren, bevor du geboren wurdest, befindet sich an den ausgefransten Rändern deiner Identität. Du erbst ihre Gene, trägst ihre Biographie in dir, aber du hast keine Erinnerungen an ihr Leben ohne dich. Deine Geburt ist die Stunde Null ihrer Existenz. Sie sind Mama und Papa. Alles andere bleibt im Dunkeln.

Links-grüne Träumerin und Spießbeamter

Einen Monat später sitze ich mit Eltern und Bruder zu Hause an der sonntäglichen Kaffeetafel. Offiziell bin ich zum Käsekuchenessen gekommen. Tatsächlich aber verfolge ich einen Plan. Aus dem Anruf hat sich eine Recherche-Idee entwickelt: Ich will mich auf die Suche nach dem mutmaßlichen Ex-RAF-Trio machen.

Zusammen mit meinem Vater.

Er war während der RAF-Zeit Polizist – und könnte nun mein Fährmann in die Vergangenheit sein.

Natürlich, es ist eine absurde Idee, und ich weiß nicht einmal genau, warum ich sie mir in den Kopf gesetzt habe. Ich weiß nur, dass es die richtige ist.

Mein Plan sieht vor, meinen Vater auf seine alten Polizeiunterlagen anzusprechen und mich so zur Frage vorzutasten, ob er bereit wäre, sich mit mir auf die Suche nach dem Trio zu machen. Nervös schaue ich zu ihm hinüber. Noch ahnt er nichts. Isst unbekümmert seinen Kuchen. Mir fällt auf, wie tief sein Kopf über die letzten Jahre in den Hals gesunken ist, wie gebeugt er dasitzt, wie rund sein Rücken ist. Dabei soll das Leben mit 66 Jahren doch erst anfan- gen.

Wie wird er reagieren?

Weil wir uns beim ersten Cappuccino in eine hitzige Diskussion verstricken, komme ich erst einmal gar nicht dazu, meinen Plan anzugehen. Es ist nämlich so: Mein Vater und ich können nicht einmal einen Kaffee miteinander trinken, ohne uns zu streiten. Das

»Der Papa hat recht: Wer sich da aufhält, wo Steine geschmissen werden, ist selbst schuld, wenn er was abbekommt!«

Bullen halten eben zusammen.

Meine Mutter versucht zu vermitteln: »Beide Parteien haben Schuld.«

Da knurrt mein Vater sie an: »Immer bist gegen mich.«

»Habt ihr keine Sympathie für linke Ideale?«, hake ich noch einmal nach.

»So was zu sagen ist einfach nur dumm! Einfach nur saudumm«, entgegnet mein Vater.

Ich bin das schwarze Schaf meiner Familie. Die Einzige, die weder regelmäßige Arbeitszeiten noch ein regelmäßiges Einkommen hat, die Einzige, die studiert hat. Mein zwei Jahre jüngerer Bruder hat bei der Polizei angefangen, als ich noch in Unisälen herumdümpelte. Während er mit seiner Ehefrau Laura eine halbe Stunde von meinen Eltern entfernt lebt, tingele ich als freie Journalistin um die Welt, habe einen abenteuersüchtigen Buchautoren als Freund und oft nicht einmal einen festen Wohnsitz. Wie das alles funktionieren kann, ist meiner Familie ein beständiges Rätsel.

Mir manchmal auch.

Ich beuge mich über mein Stück Kuchen. Soll ich ihm wirklich von meiner Idee erzählen? Wie genau eigentlich? Lass uns gemeinsam drei frühere Terroristen suchen? Er wird sich aufregen, ist ja jetzt schon auf hundertachtzig. Dass wir bei unseren Diskussionen immer so in Rage geraten, liegt uns im Blut. Wir sind beide stur. Dazu kommt, dass die gegenwärtige Nachrichtenlage Aufreger produziert, die unsere Meinungsverschiedenheiten beständig auflodern

Ständig müssen wir uns demonstrieren, wie falsch der andere mit seiner Sicht liegt. Überzeugen lassen wir uns nie voneinander. Es gewinnt keiner, auch heute reicht es wieder nur zum Waffenstillstand, der oft schlimmer zu ertragen ist als der Streit zuvor. Mein Vater schaufelt finster Käsekuchen in sich hinein.

»Iss nicht so schnell«, mahnt meine Mutter.

Mein Vater funkelt sie an.

»Das kommt davon, weil ich mich so aufregen muss«, sagt er und deutet mit dem Kinn in meine Richtung. »Pff«, mache ich und hacke auf mein eigenes Kuchenstück ein. Meine Mutter verdreht die Augen.

Er wird mich für verrückt erklären, und ich kann es ihm nicht einmal verübeln. Egal.

Ich gebe mir einen Ruck.

»Sag mal, Papa, hast du deine alten Polizeiunterlagen noch?«

»Ja freilich, auf dem Dachboden.«

»Können wir uns die mal ansehen?«

Seine Gabel verharrt in der Luft.

»Ich erzähl’s dir oben. Hat was mit meiner Arbeit zu tun«, sage ich möglichst neutral.

Er zuckt mit den Achseln, was auch immer, und isst weiter. Ich beuge mich wieder über mein Kuchenstück, damit er nicht sieht, dass ich Blut und Wasser schwitze.

Hoffentlich geht das nicht nach hinten los.

»Puh, hier wird es ja immer stickiger«, sage ich.

»Ja mei«, sagt mein Vater, soll heißen: selbst schuld, du willst ja hier hoch. Er ächzt vor mir die steile Leiter zum Dachboden hinauf. Schnaufend kniet er sich unter die Dachschräge.

»So, irgendwo hier muss es sein.«

Ich gehe in die Hocke und schaue mich um. Zu gerne würde ich schreiben, dass Staub durch die Luft wirbelt, als wir das Licht über

»Oh mei, wo hab ich das denn gleich wieder hin?«, sagt mein Vater, öffnet mehrere Kisten hintereinander, kramt hektisch darin herum. Ein leichter Schweißfilm bildet sich auf seiner Stirn.

Ich luge über seine Schulter und sehe, dass es in den Kartons nicht so ordentlich ist, wie es von außen wirkt. Folien, mit Papieren und Fotos, hellgrüne Fächermappen und graue Hängeordner liegen durcheinander.

So ist das also. Da hat jemand einfach alles hineingeschmissen und den Deckel draufgemacht. Nur von außen sieht es aus, als wäre die Vergangenheit sauber weggeschlossen.

»Ah, da ist’s doch«, sagt mein Vater und zieht etwas aus einem Karton.

Erinnerungen von Blut, Angst und Tod lassen sich mit Sagrotan nicht bändigen. Erinnerungen sind Untote. Und auch, wenn ich jetzt noch nicht weiß, wie sehr sie meinen Vater heimsuchen werden, bin ich es doch, die ihn dazu bringt, ihr Grab zu öffnen.

Auf dem Dachboden

»BKA: Sicher aufbewahren! Nicht pressefrei!«, steht auf jeder Seite einer Mappe, die mein Vater aus einer Kiste gezogen hat. Sie ist dunkelgrün und in etwa so groß wie ein Taschenbuch.

»Die hab ich immer bei der Arbeit dabeihaben müssen. Dienstvorschrift«, sagt er und wirft einen langen Blick darauf.

»Da sind die Fahndungsunterlagen zur RAF drin.«

»Darf ich mal?«

»Ja, nimmst sie halt.«

Ich blättere durch dieses sogenannte »Personenfahndungsregister« aus den siebziger und achtziger Jahren. Die Seiten bestehen aus durchsichtigen Plastikfolien, in denen DIN-A5-große Papiere stecken, bedruckt mit Fahndungsinformationen und Fotos gesuchter mutmaßlicher RAF-Mitglieder.

»Damit sie immer austauschen kannst. Wenn neue Infos zu einer gesuchten Person kommen, hast die alten Kartons raus und die aktualisierten rein«, sagt mein Vater.

Junge Menschen starren mich von den Schwarz-Weiß-Fotos in der Mappe an. Viele davon nicht freiwillig. Auf der Aufnahme einer Frau ist sogar eine Männerhand zu sehen, die ihren Kopf nach oben presst, während sie offenbar versucht, ihr Gesicht nach unten zu drücken. Mein Vater bemerkt meinen Blick. »Erkennungsdienstliche

Es hat etwas Unheimliches, diese alten Bilder anzusehen. Manche der Personen sind mir aus Zeitungsartikeln vertraut, gleichzeitig wirken sie fremd. Die Fotos zeigen sie, bevor sie in die Schlagzeilen gerieten. Das Bild eines jungen Wolfgang Grams in der Mappe wird in meinem Kopf von dem des toten Wolfgang Grams überlagert. Sein Körper auf dem Gleisbett von Bad Kleinen, einen Beatmungsschlauch im Mund.

Mein Vater beobachtet mich still. Die Mappe ist ein altes Arbeitsutensil, etwas Unpersönliches und doch fühlt es sich an, als würde ich in seinem Nachtkästchen stöbern. Das private Schicksal meines Vaters und ein Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte sind unwiderruflich verknüpft. Zum ersten Mal spüre ich die Wucht der Tatsache, dass er in Terrorzeiten Teil des Staatsapparates war, Teil des Systems, das die RAF bekämpfte. Für sie war er »ein Schwein« und »kein Mensch«, wie es RAF-Mitgründerin Ulrike Meinhof 1970 formulierte, »und natürlich kann geschossen werden«.

Ob das heute noch gesuchte Trio auch in dieser Fahndungsmappe steckt? Ich hoffe es. Es wäre der perfekte Aufhänger. Ich blättere durch die Seiten. Da sind sie: Fahndungsbilder von Daniela Klette. Zu sehen ist eine junge Frau mit kindlichen Gesichtszügen und wilden, bis zum Ohr reichenden Haarsträhnen, etwa 25 Jahre alt. Entschlossener Blick und trotzig vorgeschobene Lippen. Die Fleisch gewordene Essenz des Pink Floyd Songs »We don’t need no educa- tion«.

»Eine richtige Göre«, sage ich zu meinem Vater.

Er entgegnet nichts, zieht nur die Augenbrauen hoch. Schon klar, sie ist eine mutmaßliche Verbrecherin, da spricht man nicht von einer »Göre«.

Doch Ernst-Volker Staub finde ich. Er ist gerade einmal zwei Jahre jünger als mein Vater. Die gleiche Generation, zwei gegensätzliche Lebenswege. Die Fotos zeigen einen Mann Anfang 30, leichter Vokuhila, leutseliger Gesichtsausdruck, dicker Schnurrbart. Könnte der Sänger einer Cover-Band für Geburtstage und Hochzeiten sein.

»Ich find’s lustig, der sieht ein bisschen aus wie du damals. Voll Achtziger.«

Mein Vater schnaubt. Er schüttelt griesgrämig den Kopf, bleibt aber weiter stumm. Ich bin enttäuscht. Dachte, er kommt über die Fotos ins Plaudern. Ich nehme an, wenn es nach ihm gehen würde, könnten wir die Mappe zuklappen und uns wieder an den Tisch zu meiner Mutter und meinem Bruder setzen. Vielleicht noch ein Stück Kuchen. Dann ein Mittagsschlaf.

Langsam muss ich zum Kern meines Anliegens kommen.

»Hast du auch ein Bild von dir als Polizist da drin?«, frage ich.

»Irgendwo scho’.«

Ich schaue ihm zu, wie er vergilbte Klarsichtfolien mit Fotos aus einem Karton holt. Ich weiß so gut wie nichts über sein Arbeitsleben. Er war ein Wochenendpapa. Wenn er zu Hause war und mein Bruder und ich etwas wollten – Fernsehen zum Beispiel –, gingen wir zu ihm. Er war gutmütig. »Und ich darf das ausbaden«, sagte meine Mutter dann.

Unter der Woche verließ er das Haus morgens um zehn vor sechs, wenn mein Bruder und ich noch schliefen, und fuhr mit dem Zug nach München zu seiner Dienststelle. Abends um halb sechs holte ihn meine Mutter wieder mit dem Auto am Bahnhof ab. Ich sah ihn erst beim Abendessen.

Ich kenne nur eine Anekdote aus seiner Zeit als Polizist: Er durchsuchte gerade die Wohnung eines Wirtschaftsbetrügers, da rannte dessen Ehefrau zum Fenster, öffnete es und stieg auf den Sims.

Erst seitdem er in Rente ist, dämmert mir, dass ich gar nicht weiß, wie sein Alltag aussah, was für ein Mensch er als Polizist war und welche Spuren die deutsche Geschichte der siebziger und achtziger Jahre bei ihm hinterlassen hat. Ich bin Journalistin, und meine Arbeit besteht zu einem großen Teil darin, mit fremden Menschen über persönliche Erfahrungen zu sprechen. Nie kam ich auf die Idee, meine eigene Familiengeschichte zu untersuchen. Dabei ist auch mein Vater ein Zeitzeuge. Jetzt frage ich mich zum ersten Mal: Wie sehr hat ihn die Zeit geprägt, als die RAF den deutschen Staat angriff?

»Da schau, da war ich 17 Jahre alt, gerade frisch in der Ausbildung.«

Mein Vater hält ein Foto hoch. Zu sehen ist ein junger Mann mit ordentlich Pomade im braven Kurzhaarschnitt und Polizeiuniform. Er sieht so sauber aus wie gekochte Wäsche.

»Damals hast ja nur zehn Meter geradeaus laufen können müssen, dann hat dich die Polizei genommen«, sagt er abwinkend.

Was mich ins Herz trifft, ist sein Blick auf dem Foto. Es ist nicht der Gesichtsausdruck, den ich von meinem Vater kenne. Er erinnert mich an einen Wurf Babykatzen auf dem Bauernhof meiner Großeltern. Wenn »Tiger« Junge hatte, versteckte sie die auf dem Heuboden. In den Gesichtern dieser Kätzchen, wenn mein Bruder und ich sie zwischen getrockneten Grasballen fanden, sahen wir blindes Vertrauen in die Welt. Sie wussten nicht, dass mein Opa sie erschlagen würde. Mein Bruder und ich zum Glück auch nicht.

Im Karton liegt ein zweites Foto, von 1979, ein gutes Jahrzehnt nach dem ersten aufgenommen. Da ist mein Vater 29, so alt wie ich jetzt, als ich sein Foto betrachte. Nichts ist mehr milchbubihaft an ihm. Als hätte er sich gehäutet. Und noch etwas ist anders: Es ist sein Mund. Die leicht geöffneten Lippen des 17-Jährigen sind nun geschlossen. Mein Vater presst sie zusammen, als würde er selbst beim

Was ist passiert in den Jahren dazwischen?

»Warum willst das denn alles wissen, Pati?«

Ich schaue ertappt auf.

Mein Vater wirft mir seinen Polizistenröntgenblick zu.

Jetzt muss ich Farbe bekennen.

Im Schein der Dachbodenlampe sage ich: »Ich will das RAF-Trio suchen. Und dachte, du könntest mir helfen.«

»Ich könnt dir helfen?«

»Na, dass wir uns zusammen an ihre Fersen heften.«

Seine Augen weiten sich erst und verengen sich dann zu Schlitzen.

»Du brauchst immer den letzten Kick. Ohne den geht’s ned, oder?«

»Heißt das ja?«

»Pati, die linksextreme Szene ist auch heute noch unheimlich gefährlich!«

Stimmt, es ist gefährlich. Aber aus einem anderen Grund: Eine solche Recherche würde bedeuten, dass mein Vater und ich Zeit miteinander verbringen. Vermutlich viel mehr Zeit als jemals zuvor.

»Also wirklich, Pati, wieso machst denn nicht was für den Bayerischen Rundfunk?«

Ich verdrehe die Augen. Mein Vater verschränkt die Arme vor der Brust. Seine grau-weißen Haare stehen nach oben, der Kopf bebt vor Ärger.

»Geh mit dem Bergsteiger-Messner den Yeti suchen von mir aus, aber nicht so was!«

»Ach, Papa.«

»Warum kannst du nicht a normales Thema recherchieren wie a normaler Journalist?«

»Wie willst die denn suchen? Die Polizei findet sie ja auch nicht. Meinst, du bist schlauer als die Polizei?«

»Ich will sie ja nicht festnehmen, sondern mit ihnen sprechen.«

»Du kannst ein Inserat aufgeben: Meldet euch bei mir.«

»Sehr witzig.«

»Ja, das ist genauso unwahrscheinlich wie dass du die findst!«

Ich schweige, doch eine nagende Stimme in mir sagt: Er hat recht. Es ist vollkommen idiotisch, Leute suchen zu wollen, die sich seit über 25 Jahren erfolgreich unsichtbar machen. Und dann geht es dabei auch noch um das Thema RAF – bis heute ein politisches und gesellschaftliches Minenfeld. Die Ereignisse mögen Geschichte geworden sein, aber die aktuelle mediale Aufregung um das Trio zeigt, dass die Wunden noch lange nicht verheilt sind. Auch nicht bei deinem Vater, erinnere ich mich selbst, oder warum hat er so aufgeregt auf die Nachricht ihres Wiederauftauchens reagiert? Wer bist du, dass du denkst, dieser Geschichte gewachsen zu sein?

Scham breitet sich in mir aus wie schwarze Tinte in einem Wasserglas.

Mein Vater fummelt an der dicken goldenen Halskette herum, an der sein Ehering baumelt. Er trägt sie über dem T-Shirt wie ein Italiener. Ich mag das. Die Goldkette lässt eine alternative Wirklichkeit aufblitzen, in der mein Vater aus seinem Rentnerdasein ein Dolce Vita macht. Doch er trägt sie nur, weil seine Finger wegen der Arthrose zu geschwollen für Ringe sind, und das einzige Südländische an ihm ist sein Vorname. Wehe dem, der Guido wie in Guido Westerwelle, also mit langem i ausspricht, und nicht italienisch mit ui.

»Wer weiß, was wir alles herausfinden könnten«, sage ich.

Mein Vater schaut auf das Aufnahmegerät in meiner einen und auf die grüne Mappe in meiner anderen Hand. Sein Blick sagt mir, er würde mich am liebsten in meinem alten Kinderzimmer ins Bett legen, mir übers Haar streichen – und gleichzeitig eine runterhauen.

»Es ist eine … ambitionierte journalistische Recherche.«

»Nein, das ist einfach doof.«

»Lass es uns doch erst einmal versuchen.«

»Ach, Pati, vergiss es.«

Er lässt die Schultern hängen und starrt vor sich hin, den Blick nicht mehr auf mich gerichtet, sondern auf etwas Fernes. Ich beobachte ihn. Was geht in ihm vor? Da ragt etwas aus seiner Vergangenheit in die Gegenwart, und es zeigt ihn in einem anderen Licht: nicht als den ewig grantigen Rentner. Sondern verletzlich. Zweifelnd. Unvollendet in seinen Sehnsüchten und Wünschen.

Wie zu sich selbst sagt er: »Ich hab mit der Polizei längst abgeschlossen und all meine Illusionen begraben.«

Der Überfall

Ein Monat später:

Mein Vater sitzt am Steuer seines dunkelblauen Toyotas, der Schlosser’schen Familienkutsche, ich neben ihm. Es ist ein warmer, windiger Herbsttag. Wir sind unterwegs in Sachen RAF-Trio: zum Tatort eines Raubüberfalls in der Nähe von Braunschweig. An den Autofenstern fliegen die Schilder Richtung Salzgitter und Wolfsburg vorbei. Beides ebenfalls Tatorte von Raubüberfällen, die das LKA dem Trio zuschreibt. Niedersachsen ist der geographische Schwerpunkt ihrer Raubserie.

»Als würden wir durch das Hoheitsgebiet der drei reisen«, sage ich zu meinem Vater.

Er schnaubt grantig.

»Kann mir keinen netteren Ausflug vorstellen.«

Mein Vater ist den ganzen Weg von München bis nach Braunschweig gefahren, wo wir uns vor einer Stunde in einem Hotel getroffen haben. Ich bin mit dem Zug aus Hamburg angereist. Dort wohne ich inzwischen. Hamburg ist der letzte Ort, an dem das Trio vor seinem Abtauchen Anfang der neunziger Jahre gesehen wurde, und damit der bessere Ausgangspunkt für die Recherche als München.

Während der Zugfahrt habe ich mich die ganze Zeit auf die Reaktion meines Vaters gefreut, wenn er das schicke Doppelzimmer sieht, das ich gebucht hatte. Es ist das erste Mal, dass wir zu zweit in einem Hotel übernachten. Doch alles, was meinen Vater bei der

Am Tag zuvor hatte ich Lutz Gaebel angerufen, Pressestelle Erster Staatsanwalt in Verden. Die Staatsanwaltschaft Verden leitet die Fahndung des LKA Niedersachsens nach dem Trio. Ich hatte schon einmal im Sommer mit ihm telefoniert. Damals hieß es: Die heiße Spur ist nicht dabei. Ob sich daran inzwischen etwas geändert hat, will ich wissen.

Er räuspert sich.

»Nein, also die berühmte heiße Spur haben wir noch nicht gefunden.« Es sei im Moment ein »sehr intensives Spiel«, sagt er, ein »Zusammentragen von einzelnen Indizien, die dann hoffentlich irgendwann mal das große Bild ergeben«.

»Hoffentlich irgendwann« – das ist also der Stand der Fahndung. Nach über 25 Jahren.

In diesen 25 Jahren begann der Jugoslawienkrieg und endete wieder, zwei Flugzeuge rasten ins World Trade Center, der erste schwarze Präsident der USA regierte zwei Legislaturperioden lang, ich bin aufgewachsen, absolvierte mein Studium und wurde Journalistin – so lang sind 25 Jahre, und die Polizei sagt: »hoffentlich«, »irgendwann mal das große Bild«.2

»Hier müssen wir runter«, sage ich zu meinem Vater, den Blick auf die Karte auf meinem Handy gerichtet. Wir biegen eine Dreiviertelstunde östlich von Braunschweig von der Autobahn ab. Ein kleines, verschlafenes Gewerbegebiet liegt vor uns. Ein Billigklamottenladen, ein Supermarkt, ein Tierbedarf und die Filiale eines

Am 25. Juni 2016 sollen Daniela Klette, Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg einen Geldtransporter vor dem Matratzengeschäft ausgeraubt haben. Es ist ihr bisher letzter und gleichzeitig ihr erfolgreichster Überfall: Sie sollen mit über 600000 Euro entkommen sein.

»Wollen wir mal im Laden nachfragen, wie das war an dem Tag?«, frage ich, als wir parken. Mein Vater schaltet den Motor aus und starrt einen Moment durch die Frontscheibe auf das Matratzengeschäft.

»Einfach so reingehen, oder wie stellst dir das vor?«

»Genau.«

Mein Vater zögert. Ich weiß, was er denkt: Noch ist unsere gemeinsame Suche nur halb real. Das Herumfragen im Matratzengeschäft ist wie ein Startschuss, es würde die Sache ins Laufen bringen, es gäbe kein Zurück mehr, er wäre verdammt.

»Das bringt nichts, Pati.«

»Jetzt sind wir schon mal da!«

»Alles, was man rausfinden kann, steht doch eh scho’ im Internet.«

Insgeheim zweifle auch ich, dass man nach dem ganzen medialen Rummel vor wenigen Monaten überhaupt noch etwas in Erfahrung bringen kann. Offiziell hieß es aus der Presseabteilung des Matratzengeschäfts: Kein Kommentar, man wolle die Mitarbeiter »schützen«. Die Wahrheit ist wohl eher: So ein Raub ist schlecht fürs Geschäft.

Das alles, alles, ist doch eine idiotische Idee, denke ich mir. Doch zu meinem Vater sage ich: »Warum fahren wir extra hierher, wenn wir jetzt nicht reingehen?«

»Ich hab ja gleich g’sagt, dass wir das auch anders hätten lösen können.«

Ich nicke grimmig. In der Tat. Kurz vor seiner Abfahrt hatte er mich angerufen. Ihm wäre was eingefallen. Wir könnten diese

Ausgerechnet er, der gesetzestreue Beamte, der sich gerne über die »Lügenpresse« auslässt, schlug mir vor, eine Recherche zu fälschen.

Als er merkte, dass ich mich darauf nicht einlassen würde, sagte er wie jemand, der die Geheimwaffe hervorholt:

»Pati, da ist der Hund.«

»Ja, und? Der kommt schon mal ohne dich klar.«