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Semiya Simsek • Peter Schwarz

Schmerzliche Heimat

Deutschland und der Mord an meinem Vater

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Semiya Simsek / Peter Schwarz

Semiya Simsek, geboren 1986 im hessischen Friedberg, war vierzehn Jahre alt, als ihr Vater ermordet wurde. Jahrelang stand die Familie unter Verdacht, bis die Verbrechen des NSU im November 2011 aufgedeckt wurden. Semiya Simsek hat als Pädagogin gearbeitet und entschloss sich im Herbst 2011, vorerst in die Türkei zu ziehen, wo sie nie zuvor gelebt hat.

 

Peter Schwarz, geboren 1965, ist Redakteur der «Waiblinger Kreiszeitung». Dreimal erhielt er den Deutschen Lokaljournalistenpreis, u.a. für seine Recherchen zum Amoklauf von Winnenden; 2002 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.

Über dieses Buch

Zweimal brach für Semiya Simsek eine Welt zusammen: das erste Mal am 9. September 2000, als ihr Vater Enver Simsek erschossen wurde. Da war sie vierzehn Jahre alt. Und dann, als nach über elf Jahren die Hintergründe der Tat ans Licht kamen: Es war der erste von zehn Morden des «Nationalsozialistischen Untergrunds» (NSU). Nun berichtet Semiya Simsek, wie das Verbrechen ihr Leben und ihr Vertrauen in Deutschland erschütterte – das Leben einer türkischen Einwandererfamilie, für die dieses Land längst Heimat war. Enver Simsek hatte es vom Hilfsarbeiter mit viel Fleiß zum Blumengroßhändler gebracht – eine deutsche Karriere. Doch nach seiner Ermordung wurde seine Familie von der Polizei, die Mafiakontakte vermutete, jahrelang verdächtigt, bedrängt und ausspioniert. «Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein», sagt Semiya Simsek. Hier erzählt sie ihre bewegende Geschichte: die einer jungen Deutschen und ihrer Familie, deren Leben durch einen Terrorakt zerstört, durch Vorurteile weiter zerrüttet wurde und die dennoch stark blieb. Und sie schildert die Hintergründe des Verbrechens, der Ermittlungspannen und -irrwege; Semiya Simsek hatte exklusiven Einblick in die Polizeiakten. Ein Buch über einen der größten politischen Skandale der letzten Jahrzehnte und das aufwühlende Schicksal einer Familie.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Frank Ortmann, Berlin

(Foto der Autorin: Stephanie Schweigert)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-87134-480-0 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-11431-9

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-11431-9

Für meinen Vater

Prolog Meine schlimmste Nacht

An einem Sonntag gegen vier Uhr morgens rüttelte mich jemand aus dem Schlaf. Ich war seit anderthalb Wochen zurück im Internat in Aschaffenburg, die ersten Schultage lagen hinter mir, den Kopf hatte ich noch voller Erinnerungen an die Ferien mit meiner Familie. Es war der 10. September des Jahres 2000. Das Datum hat sich mir eingebrannt. Ich war vierzehn Jahre alt.

Semiya, du musst aufstehen, sagte eine Betreuerin. Aufstehen, mitten in der Nacht? Ich war so verwirrt und verschlafen, dass ich nicht weiter nachfragte. Pack deine Sachen zusammen, hieß es, nimm etwas zum Anziehen und Waschzeug mit und vergiss deinen Pass nicht.

Was bedeutete das? Warum musste ich jetzt los und wohin? Wozu brauchte ich den Pass? Die Leute vom Internat erklärten mir nicht viel, nur, dass ich gleich abgeholt würde. Schlaftrunken stopfte ich ein paar Kleidungsstücke in meine Tasche und tappte hinaus. Vor dem Haus warteten ein Cousin meines Vaters und ein guter Bekannter unserer Familie. Sie sagten: Dein Vater ist krank, wir fahren jetzt schnell nach Nürnberg, er liegt dort im Krankenhaus, deine Mutter hat uns geschickt.

Krank? Ich war durcheinander, besorgt und desorientiert, ich spürte eine drückende Angst im Bauch. Auf der Fahrt wurde kaum etwas geredet. Und ich traute mich auch nicht, nachzufragen. Kurz vor Nürnberg erzählten sie mir, dass mein Vater nicht krank, sondern verletzt sei. Und dann waren wir in der Klinik, um sieben Uhr morgens. Kerim wird bald da sein, sagte einer der beiden. Mein Bruder war also schon unterwegs aus seinem Internat in Völklingen. Meine Mutter sollte auch bald kommen.

Wir warteten auf dem Flur, ich weiß nicht genau, wie lange, mir ging das Zeitgefühl verloren, es kam mir endlos vor. Männer und Frauen in weißen Kitteln liefen an uns vorbei, eilten hin und her, verschwanden hinter Türen, aber niemand sprach mit uns. Ich war todmüde und furchtbar beunruhigt zugleich, konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, alle möglichen Fragen kreisten mir im Kopf herum, ich betete: Bitte, bitte, mach, dass es nichts Schlimmes ist. Bitte, bitte.

Irgendwann stand eine Schwester vor mir und nahm mich mit zur Intensivstation. Dort wartete ein Polizist auf mich: Bist du Semiya Simsek? Ist Enver Simsek dein Vater? Ob mein Vater für gewöhnlich eine Waffe bei sich trage, wollte der Mann wissen. Ob er zu Hause Waffen aufbewahre. Ob wir Feinde hätten. Ich verstand überhaupt nichts, ich wollte bloß zu meinem Vater, wünschte, dass meine Mutter endlich hier wäre, und wusste kaum etwas zu antworten. Waffen? Mein Vater besaß eine Gaspistole und hatte in der Regel ein Taschenmesser dabei, zum Blumenschneiden, auch eine Gartenschere lag im Wagen. Aber Feinde? Was für Feinde denn?

Es war mittlerweile neun Uhr, die ersten Verwandten waren eingetroffen, und wir warteten auf dem Gang vor der Intensivstation. Nur meine Mutter war immer noch nicht da. Dann kam die Schwester wieder zu mir, und endlich durfte ich zu meinem Vater. In seinem Krankenzimmer war ich bei ihm und mit ihm alleine. Auf den ersten Blick sah er fast aus wie immer, beinahe, als würde er schlafen. Nur, dass alles voller Kabel und Schläuche war. Ich wagte zunächst kaum, näher hinzugehen, eingeschüchtert von diesem fremden Raum mit all den Monitoren und Apparaten. Mein Vater lag auf dem Rücken und bewegte sich nicht. Dann sah ich Schwellungen an seinem Kopf. Ein Gerät piepste. All die Schläuche, Kabel und Geräte waren mit ihm verbunden, mit seinem Körper.

Ich ging um ihn herum, auf die andere Seite des Bettes, und der Anblick raubte mir die Fassung: Ich sah sein Auge, und mir wurde klar, er würde mit diesem Auge nie wieder sehen können. Das Kopfkissen war voller Blut. Noch immer hatte ich nicht die geringste Ahnung, was passiert war, aber ich wusste: Es ist etwas richtig Schlimmes geschehen. Etwas Furchtbares.

Alles begann sich um mich zu drehen, der Raum, die Schläuche, das Bett, mein Vater, das blutige Kissen. Mir wurde schlecht, ich glaube, ich habe angefangen zu weinen und zu schreien. Irgendjemand hat mich dann aus dem Zimmer geholt.

Auf dem Gang kam ich wieder zu mir. Immer mehr Verwandte trafen im Lauf des Vormittags im Nürnberger Krankenhaus ein. Erst am Mittag, gegen dreizehn Uhr, kam mein Bruder, und endlich, irgendwann am Nachmittag, waren meine Mutter und ihre Brüder da, meine Onkel Hüseyin und Hursit. Mutter begann zu weinen, als sie uns sah, sie war vollkommen aufgelöst. Die Nürnberger Kriminalpolizei hatte sie schon vernommen, aber das erzählte sie mir erst viel später. Wir waren etwa vierzig Leute, die ganze Familie und viele Bekannte, alle wollten bei uns und bei meinem Vater sein, sie kamen aus Schlüchtern und aus Neuss angereist und ich weiß nicht, von wo überall her. In schwierigen Situationen stehen wir einander bei.

Ein Arzt kümmerte sich um uns und meinte, dass wir hineingehen und mit meinem Vater reden sollten. Vielleicht hört er das, sagte der Arzt, sprechen Sie mit ihm, vielleicht spürt er, dass Sie da sind. Aber er machte uns keine Hoffnungen. Vater würde nicht überleben. Wir sollten uns von ihm verabschieden. Trotzdem haben wir noch auf ein Wunder gehofft, dass er es irgendwie schafft. Wie konnten wir auch anders? Meine Mutter beschwor die Verwandtschaft immer wieder: Betet für ihn, betet für ihn.

In dieser Nacht schliefen wir bei Nürnberger Bekannten, aber was hieß da schlafen? Wir standen alle unter Schock. Die Erwachsenen diskutierten die ganze Nacht verzweifelt, sie hatten immer noch keine Ahnung, was da geschehen war. Kerim und ich lagen im Zimmer nebenan, wir verstanden nicht genau, worüber sie redeten, aber wir hatten furchtbare Angst um unseren Vater.

Am nächsten Tag berieten sich die Ärzte, wie weiter zu verfahren sei. Ob sie die Geräte abschalten sollten oder nicht. Meine Mutter wartete mit uns Kindern und den Verwandten im Garten der Klinik, Onkel Hüseyin sprach oben mit den Medizinern. Die Entscheidung, um die es ging, war zu groß, zu unbegreiflich für mich. Als mein Onkel in den Garten kam, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten, er brach fast zusammen vor Schmerz. Sein Gesicht in dem Moment werde ich nie vergessen. Da wusste ich, was los war. Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er weinte und kaum die Worte herausbrachte: Ich habe meinen Schwager verloren.

Die Ärzte hatten die Apparate abgeschaltet, es hätte keine Chance mehr gegeben. Mein Onkel erklärte uns, dass mein Vater klinisch tot sei; dass sein Körper zwar noch jahrelang so auf dem Bett liegen könnte, angeschlossen an Maschinen, dass er aber nie wieder aufwachen würde. Dass es hoffnungslos sei.

Alle gingen nacheinander noch einmal in das Krankenzimmer und verabschiedeten sich von ihm. Wir traten an sein Bett und beteten für ihn. Dann fuhren wir heim nach Schlüchtern. Der Leichnam meines Vater blieb in Nürnberg zur Autopsie.

 

Heute habe ich keine Angst mehr, über all diese Geschehnisse zu schreiben. Über diese furchtbaren Tage, über die schwierigen Jahre danach und all die unbeschwerten Jahre davor. Die Erinnerungen sind schmerzhaft, manches bringt mich immer noch an meine Grenzen, aber viele Bilder aus der Vergangenheit sind auch schön. Als ich anfing, über alles nachzudenken und mir zu überlegen, was es zu sagen gibt, fühlte ich mich schnell ziemlich erschöpft. Ich habe gemerkt: Die Vergangenheit tut mir weh. Vor allem natürlich die schrecklichen Dinge, die geschehen sind. Vieles macht mich noch heute ratlos, und ich bin hin- und hergerissen. Mein Vater war ein guter Mensch, und an das Gute in ihm denke ich gerne. Umso mehr schmerzt es mich, daran zu denken, was ihm passiert ist.

Aber zu meiner Geschichte gehört dies alles: Die schöne Nacht im Urlaub vor dreizehn Jahren, als ich mit Vater in seinem Heimatdorf in der Türkei nachts auf dem Balkon saß, als wir die Glöckchen der aus den Bergen zurückkehrenden Schafe hörten und ich spürte, wie glücklich er in diesem Augenblick war. Und der Tag ein Jahr später, als ich ihn im Krankenhaus in seinem Blut liegen sah, nachdem sie auf ihn geschossen hatten. Die Zeit danach, die Jahre der Verdächtigungen, des Unrechts, das meine Familie ertragen musste. Die schlimmen Vermutungen, die sich meine Mutter anhören musste. Schließlich die Wahrheit, die nach so vielen Jahren herauskam. Eine Wahrheit, die befreiend war, weil sie die lastende Ungewissheit von uns nahm. Und die doch manches Unrecht umso schlimmer macht. Es ist anstrengend und aufwühlend, das alles noch einmal vor mir zu sehen. Und doch bin ich dankbar für das, was ich mit meinem Vater erleben durfte, für die Erinnerungen, die ich in mir trage, für all das, was ich niemals missen möchte.

Erstes Kapitel Kindheit in der Katharinenstraße

Flieden, die Katharinenstraße – das steht für mich heute für eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Flieden liegt gut zwanzig Kilometer südlich von Fulda, und in der Katharinenstraße gab es vier oder fünf Mehrfamilienhäuser, kleine Wohnblocks, Sozialbauten. Dort verbrachte ich meine Kindheit, sorglos und unbeschwert. Meine ältesten Erinnerungen drehen sich um den gemeinsamen Garten hinter den Häusern. Eigentlich war es einfach eine große Wiese, auf der sich kreuz und quer die Wäscheleinen spannten, und gleich auf der anderen Seite des Gartenzauns war ein Spielplatz. Irgendwer hatte mal ein Loch in den Zaun geschnitten, durch das wir zu den Schaukeln und Rutschen hinüberkrabbeln konnten. Als wir noch klein waren, ist meine Mutter immer auf den Spielplatz mitgekommen und saß dort mit den anderen Frauen. Sie hatten Kaffee in Thermoskannen dabei, meistens hatte irgendwer Kuchen gebacken, und dann machten sie einen Kaffeeklatsch auf der Wiese. In der Katharinenstraße haben Menschen der verschiedensten Nationalitäten gelebt, Italiener, Türken, Deutsche, in denselben Häusern, mit dem einen Garten, und das hat reibungslos funktioniert.

Ich hatte sogar eine italienische Oma. Seit ihr Mann gestorben war, lebte sie allein, nur ein paar Meter von uns, und ich ging oft zu ihr hinüber. Nicht etwa, weil ich Mitleid hatte – dass sie wahrscheinlich einsam war, das verstand ich damals nicht. Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich sie kennenlernte, aber ich habe ihre Zuneigung gefühlt und mochte sie sofort. An meinen Geburtstagen hat sie mir Amerikaner gebacken, und oft hat sie mich in den Supermarkt mitgenommen oder mir etwas mitgebracht. Ihren Namen weiß ich nicht mehr, ich habe sie einfach immer Oma genannt. Als Kinder haben wir nicht darüber nachgedacht, ob ein anderes Kind deutsch, italienisch oder türkisch war, wir haben uns ja gekannt. Das war unsere gemeinsame Welt, und wir ahnten gar nicht, dass irgendeine Familie von woanders herkommen konnte. Woanders – wo sollte das sein? Kinder beschnuppern sich, reden mit jedem und schließen schnell Freundschaften. Ich hatte pakistanische Freunde und eine deutsche Freundin, sie lebte nicht weit von uns auf einem Bauernhof. Manchmal hat sie nach Stall gerochen, weil sie zu Hause immer mithalf, aber das war ganz normal und hat niemand von uns gestört. Wir gingen ja auch selbst mit ihr in den Stall, schauten uns um, packten mit an, fütterten die Kühe und ärgerten die Schweine, und danach haben wir selber gerochen.

Die Häuser waren nicht groß, in jedem Mehrfamilienhaus lebten sechs Parteien. Meine Eltern, mein Bruder Abdulkerim und ich haben in der ersten Etage gewohnt, drei Zimmer, Bad, Küche und ein schmaler Flur, und wer unsere Wohnung sah, wäre nicht auf die Idee gekommen, dass hier eine türkische Familie zu Hause war. Das Wohnzimmer war in Braun gehalten, eine hellbraune Couch, ein großer Esstisch auf Rollen und die übliche Schrankwand samt Fernseher in der Mitte. Im Regal darüber standen die Bücher meiner Mutter, eine ganze Reihe Romane, Liebesromane vor allem. Und ihre Gebetbücher. Die sahen aus wie andere Bücher auch, nur die Schrift war türkisch. Kurz, man fühlte sich wie in jedem deutschen Wohnzimmer, mit Polstersesseln und einer Schrankwand von Möbel Höffner. Unser Kinderzimmer war einfach eingerichtet, ein Schrank, ein Schreibtisch für die Hausaufgaben, und das Tollste war das Stockbett, das Kerim und ich bekamen, als wir alt genug waren, um hochzuklettern. Ich liebte dieses Bett von Anfang an, wollte unbedingt oben schlafen und habe mich auch durchgesetzt. Allerdings ist meine Begeisterung schnell abgekühlt. Wir hatten nämlich vereinbart, dass jeden Abend abwechselnd einer von uns beiden das Licht ausknipste. Also musste ich jeden zweiten Tag, wenn ich schon gemütlich unter der warmen Decke lag, wieder aus dem Bett heraus und die kalten Sprossen hinunterklettern … Ich habe Kerim dann bald davon überzeugt, dass es oben viel schöner sei, und ihm schwesterlich den besseren Platz überlassen.

Die Wohnung war nicht groß, aber ich habe sie nie als eng empfunden, und wir waren sowieso fast jeden Nachmittag mit den anderen Kindern draußen. Wann wir wollten, liefen wir in den Garten, auf die Wiese und auf den Spielplatz, wir konnten auch auf der Straße herumtoben, Verkehr gab es damals wenig. An den Wochenenden hat sich die ganze Straße auf dem Spielplatz eingefunden: Erwachsene und Kinder, Väter und Mütter, Deutsche, Italiener, Türken und was für Landsleute sonst noch in der Straße gewohnt haben. Die Straße war wie ein kleines Dorf, ganz Flieden kam mir damals dörflich vor. Es gab gerade mal zwei Supermärkte, im Ortskern eine Eisdiele, ein paar Friseure, Sparkasse und Volksbank, den Bahnhof. Und mittendrin standen damals noch Bauernhöfe, bei denen man die Milch frisch aus dem Stall holen konnte.

Im Nachhinein weiß ich, dass Flieden nicht ganz so winzig war, wie ich als Kind dachte. Es wirkte beschaulich, weil es dort so ruhig war, weil das Leben unserer Familie in geregelten Bahnen verlief. Mein Vater hat Schicht gearbeitet. Wir wussten, wann er geht und wann er wieder nach Hause kommt, und daran orientierte sich unser Leben. Alles übersichtlich und aufgeräumt. Heute kann ich sagen: Ich habe mich geborgen gefühlt. In Flieden. Im Stockbett. Mit meinen Freunden und bei meiner Familie.

Das blieb auch noch so, als ich in die Schule kam, obwohl sich damit viel für mich änderte. Ich war zwar nicht unbedingt eine Top-Schülerin, aber auch nicht schlecht. Frau Hirth, meine erste Klassenlehrerin, legte großen Wert auf Disziplin. Sie war sehr streng, aber nie böse oder herrisch – streng, aber nett. Viel schwieriger war es mit meiner Kunstlehrerin. Die aß nämlich in den Pausen immer Fischbrötchen mit Zwiebeln, was man gerochen hat, und wie.

Eines war die Katharinenstraße nicht: Es war keine reiche Straße. Viel Geld hatte dort wohl keiner, aber das haben wir nie bemerkt, weil man den Mangel durch Zusammenhalt wettgemacht hat. Wenn jemand keine Zeit hatte, sich um seine Kleinen zu kümmern, weil er zum Arzt musste oder etwas zu erledigen hatte, dann hat jemand anderer solange auf die Kinder aufgepasst. Wenn ein Nachbarskind von der Schule nach Hause kam und die Mutter nicht da war, dann hat es bei uns geklingelt, sich zu uns an den Tisch gesetzt und mitgegessen, umgekehrt sind Kerim und ich auch oft bei den anderen Familien untergeschlüpft. Wer morgens seinen Sprössling zur Schule fuhr, hat so viele andere Kinder mitgenommen, wie ins Auto passten. Sorgen hätte sich deshalb keiner gemacht. Die Katharinenstraße war eine kleine Welt aus vier oder fünf Häuserblocks, in der jeder jeden kannte.

Glaubensfragen haben in diesem Alltag keine große Rolle gespielt, schon gar nicht haben sie uns getrennt. Wir sind Sunniten, und eine Etage über uns hat eine alevitische Familie gewohnt, die den Islam ganz anders auffasste als wir: Aleviten beten nicht in Moscheen, sie verehren den Imam Ali als den rechtmäßigen Nachfolger des Propheten Mohammed und legen den Koran freier aus. Früher hatten sich Sunniten und Aleviten deshalb bekämpft, in manchen Ländern tun sie das bis heute. Von dieser alten Feindschaft war bei uns nichts zu spüren, obwohl unsere Eltern uns davon erzählten, als wir alt genug waren. Unsere alevitischen Nachbarn hatten einen Sohn, ein Jahr jünger als mein Bruder, mit dem wir rund um die Uhr gespielt haben.

Natürlich war nicht alles schön und idyllisch. Ich erinnere mich an eine Nachbarin – sie dick, nudeldick, und ihr Lebensgefährte war dünn wie ein Streichholz. Über dieses komische Paar haben wir uns lustig gemacht und bekamen dann Ärger. Kinder mochte die Frau allerdings sowieso nicht, immer hat sie gemeckert, weil wir zu laut oder zu frech oder zu schmutzig waren. Aber irgendwie hat auch das dazugehört. Besonders an Feiertagen hat man gespürt, welche besondere Stimmung damals in der Katharinenstraße herrschte. Da gingen wir mit der Familie zum Grillen – und damit meine ich nicht nur uns vier, sondern die ganze Sippe. Fünf, sechs Familien zusammen, Bekannte und Verwandte, Onkel, Tanten und Cousinen, auch Nachbarn. In Flieden gab es einen großen Grillplatz, jemand brachte einen Kohlensack mit, ein anderer hatte seinen Grill dabei, und dann musste meistens noch mal wer loslaufen, weil ein einziger Rost für so viele Leute nie gereicht hätte. Man stellte eine Wanne mit Wasser auf, um das Geschirr abwaschen zu können. Irgendwer hatte immer eine Melone eingepackt, denn Melonenscheiben haben wir für unser Leben gern gegessen. Dazu gab es Paprika, süßen und scharfen, Köfte, Rindswürstchen oder Fleischspieße, alles kräftig mit Knoblauch gewürzt. Und immer stand mein Vater am Grill. Ganz gleich, welche Fotos aus dieser Zeit ich durchblättere: Auf jedem zweiten Gruppenfoto sehe ich ihn nah beim Feuer. Er aß leidenschaftlich gern Fleisch, und er hat das Grillen geliebt. Das kommt aus seiner Kindheit.

 

Der Blick auf diese fröhlichen Szenen täuscht allerdings darüber hinweg, wie fremd meinem Vater das Leben hier anfangs war. Deutschland muss ihm grau vorgekommen sein – das Grün zwischen Asphalt und Betonwänden eingesperrt, ein Land aus rechten Winkeln, in dem es nach Maschinen und Motoren riecht. So muss er es empfunden haben, als er aus Isparta hier ankam – aus einer Landschaft voller Farben und Düfte. Isparta ist eine Provinz im westlichen Taurusgebirge, etwa hundertfünfzig Kilometer nördlich von Antalya. Kaum fünfzig Menschen leben dort auf einem Quadratkilometer, und das ist der Durchschnitt, manche Landstriche sind weit dünner besiedelt. Hier in Isparta, in einem Dorf mit dem Namen Salur, war mein Vater aufgewachsen.

In der Ebene von Salur erstrecken sich Sonnenblumenfelder und Wäldchen, dahinter bauen sich die Berge auf, weite, felsige Karstlandschaften breiten sich bis zum Horizont aus, und in die Hänge haben sich tiefe Einschnitte gekerbt und Grotten eingegraben. Grün zieht sich die Bergflanken empor, bis es sich zu den Gipfeln hin im Graubraun verliert. In der Mittagshitze glühen die Felsenbänder orange, die Dachziegel leuchten zinnobersatt, die aus Lehm und Stroh gebauten Häuser schimmern in mattem Gelb, Gerstenfelder wiegen sich golden. Im Juli und August leuchtet der Himmel Tag für Tag in einem tiefen Blau, in dem allenfalls ein paar verirrte Wolkenschlieren zu sehen sind. Es ist ein Landstrich voller wunderbarer Gerüche, Königskerzen und Tragant blühen dort, Weißdorn und Jasmin, Föhren und Olivenbäume, Myrten und Pistazienbäume verströmen ihren Duft. Überall wuchern Dornpolsterheiden und Himbeergestrüpp, Lorbeer und Flockenblumen, deren stachelige Blätter sie gegen die gefräßigen Schafe schützen. Und nicht zuletzt die Rosen: Gut hundert Kilometer von Salur entfernt liegt die Provinzmetropole Isparta, die Stadt der Rosen. Seit jeher bauen die Menschen hier Duftrosen an, aus denen sie ätherisches Öl gewinnen. Isparta liegt in Rosen gebettet, umgeben von Feldern, auf denen die Blüten in sämtlichen Farben leuchten.

Als Kind hat mein Vater auf dem kleinen Bauernhof seiner Eltern gelebt. Man stand damals früh am Morgen auf, kümmerte sich um die Tiere, verrichtete sein Tagwerk und ging abends zeitig zu Bett. In den Sommermonaten ist er als junger Bursche mit den Schafen in die Berge gezogen. Schafe waren hier alles, der Reichtum der Gegend: Mein Großvater war Schäfer, mein Onkel, der nie dort wegging, ist es heute noch. Seit Jahrhunderten ziehen die Hirten des Dorfes im Mai in die Berge und kommen erst im Spätsommer zurück. Wenn sie aufbrechen, werden sie vom ganzen Dorf verabschiedet, und es ist immer ein aufregender, großer Tag, wenn sie mit ihren Herden und Hunden losziehen. Ihre Familien begleiten sie noch ein Stück, bevor sie allein weiterwandern. Jedes Dorf hat in den Bergen sein eigenes Weidegebiet, wo die Hirten den Sommer über ihre Zelte aufschlagen. Sie tragen weiße Kittel, haben zum Schutz gegen wilde Tiere ein Gewehr dabei und immer Feldflaschen mit etwas zu trinken, es kann sehr heiß und trocken sein, Wasser ist da lebenswichtig. Am Ende des Sommers, bevor sie wieder gemeinsam ins Tal hinunterziehen, entzünden sie in ihrer letzten Nacht oben in den Bergen ein großes Feuer und nehmen eine letzte Mahlzeit ein. Das Feuer ist vom Dorf aus zu sehen, und alle wissen: Morgen werden unsere Söhne, Brüder und Ehemänner wieder bei uns sein.

Jeden Frühling mit den Schafherden hinaufzuziehen zu den Weidegründen hoch in den Bergen, jeden Spätsommer zurückzukommen ins Dorf, das war die Lebensordnung meines Vaters in seiner Jugend, ein Rhythmus von Fortgehen und Heimkehren. Manchmal hat er mir von den Nächten erzählt, die er oben in den Bergen verbracht hat: von eisig kalten Nächten nach heißen Tagen, in denen das Feuer knisterte und manchmal leise Pfiffe ausstieß, wenn der Wind in die Flammen griff und ein Funkengestöber hinauf in den Sternenhimmel tanzen ließ. Von Nächten, in denen die älteren Hirten Geschichten erzählten, schöne und unheimliche, in denen unbekannte, dunkle Tiere im Gestrüpp raschelten und die Hunde anschlugen.

Salur, die Berge, das Land Isparta: All das muss meinem Vater in Deutschland sehr gefehlt haben, und in seiner Erinnerung ist ihm diese Welt, die er hinter sich gelassen hatte, vermutlich noch schöner, noch leuchtender erschienen, und manchmal, in Momenten der Müdigkeit, wird er sich nach den Farben, Klängen, Düften seiner Heimat gesehnt haben.

 

Wie mag er sich gefühlt haben, als er im Oktober 1985, mit vierundzwanzig Jahren, nach Deutschland kam? Wie mögen ihm das kühle, fremde Wetter, die feuchte, fremde Luft vorgekommen sein, wie diese fremden Menschen und ihre fremde Sprache? Ich weiß es nicht, denn er hat mit mir nie über diese erste Zeit in Deutschland gesprochen – umso öfter hat er mir von seiner Kindheit in der Türkei erzählt, von seiner Jugend, seiner Schulzeit. Es war immer klar, dass er eines Tages dorthin zurück-, dort wieder leben wollte. Ganz allein war er jedoch nicht, als er hier eintraf. Viele Leute aus seiner Gegend waren schon vor ihm nach Deutschland gezogen. Freunde und Verwandte, Bekannte aus der Region Isparta, Menschen aus Salur. Sie teilten eine Vergangenheit, sie teilten Erinnerungen.

Nach Deutschland zu gehen bedeutete für einen Mann wie meinen Vater, der in kargen Verhältnissen aufgewachsen war, neue Chancen und Perspektiven, eine Aussicht auf Wohlstand, die er zu Hause nie gehabt hätte. Deutschland war für ihn ein Sehnsuchtsort, an dem er ein besseres Leben aufbauen konnte. Im Grunde aber hat ihn die Liebe nach Deutschland geführt. Es mag überraschen, aber den Ausschlag für seine Umsiedlung gab letztlich, dass er hier endlich mit meiner Mutter, Adile Simsek, geborene Bas, zusammenleben konnte. Er war damals schon sieben Jahre mit ihr verheiratet, und doch lebten beide getrennt. Das wirkt seltsam, war aber für ihre Verhältnisse kein ungewöhnliches Schicksal. Mein Vater und meine Mutter waren beide in Salur aufgewachsen, sie kannten sich seit ihrer Kinderzeit und hatten die gleiche Schule besucht. Aber dann zog der Vater meiner Mutter als Gastarbeiter nach Deutschland, seine zwei Söhne und seine Tochter nahm er mit. Seine Frau und der älteste Sohn blieben zu Hause, schließlich stand fest, dass der Vater nach ein paar Jahren wieder zurückgehen würde, und tatsächlich ist mein Großvater später heimgekehrt. Als meine Mutter nach Deutschland ging, waren meine Eltern schon ein Paar. Sie haben sich Briefe geschrieben und haben sich immer gesehen, wenn meine Mutter ihre Ferien in Salur verbrachte. Später haben meine Eltern dann auch in der Türkei geheiratet. Das war 1978.

Nach ihrer Heirat lebten die beiden allerdings zunächst weiterhin getrennt: meine Mutter in Deutschland, mein Vater in der Türkei, wo er noch den Militärdienst absolvieren musste. So hatten sie einfach nicht die Möglichkeit, ein gemeinsames Leben aufzubauen, eine Familie zu gründen, und mussten über Jahre hinweg eine Fernbeziehung führen. Damit so etwas funktioniert, braucht es viel Grundvertrauen. Und entweder wächst dieses Vertrauen im Lauf der Jahre, oder man trennt sich früher oder später. Bei meinen Eltern wuchs es die ganze Zeit, und deshalb bestand später zwischen ihnen auch eine außergewöhnliche Nähe. Sie haben sich blind vertraut.

Von 1980 bis 1982 diente mein Vater bei der Armee in Ankara, in diesen Jahren haben sie sich kaum gesehen. Aber er hat ihr viele Gedichte geschrieben, häufig auf die Rückseiten von Fotos, die seine Kameraden von ihm gemacht haben. Auf einer dieser Aufnahmen liegt er in Uniform auf einer Wiese, die Rückseite des Bildes hat er ganz eng in seiner schönen Handschrift beschrieben. Es ist nicht leicht, diesen Text auf Deutsch wiederzugeben, denn die türkische Sprache funktioniert ganz anders als die deutsche, sie ist viel blumiger und poetischer. Es gibt in Deutschland viele merkwürdige, falsche Vorstellungen davon, wie türkische Männer angeblich mit Frauen umgehen. Deshalb übersetze ich hier diese Zeilen, die mein Vater als türkischer Soldat für seine Frau gedichtet hat:

Mein Herz ist schwer. Ich habe den Wunsch, dich zu sehen. Wenn ich Leuten begegne, die dich gesehen haben, dann will ich sie immer wieder fragen, wie es dir geht. Ich träume von dir. Ich bin so weit von dir entfernt, aber ich fühle dich immer in mir. Alle Leute, die mich mögen, sollen dieses Bild gut aufbewahren, es ist ein Erinnerungsstück von mir für euch: Wenn ihr an mich denken wollt, dann schaut euch die Bilder von mir an und seid nicht traurig, dass ich nicht da bin.

Dieses Gedicht und einen ganzen Packen weiterer Liebesbriefe habe ich erst vor fünf Jahren entdeckt. Ich war in der Türkei und ging seit langem wieder in das Haus, das mein Vater in seinem Heimatdorf gebaut hatte, seit seinem Tod hatte ich es nicht mehr betreten. In einem Zimmer stand die Brautkiste meiner Mutter, in der sie nach türkischer Tradition ihre persönlichen Sachen aufbewahrte. Ich habe hineingesehen, und es waren Teller, Handtücher, Aussteuer darin – und ein ganzer Ordner mit den Briefen meines Vaters. Als ich all das las, begriff ich ihre Liebe, ihre Sehnsucht damals. Ich bekam eine Ahnung, wie schmerzhaft es gewesen sein muss, wenn man sich zwölf Monate lang nicht sehen konnte. Einen dieser Briefe hat er genau hundert Tage vor dem Ende der Militärzeit verfasst, und er beschreibt darin, wie sehr er sich auf das Wiedersehen freut. Zwischen die Absätze hat er kleine Gedichte eingefügt, eines heißt: «Ich werde zurückkommen».

Schau dir mal dieses Schicksal an, was hat es mit mir gemacht: Das Schicksal hat mich ganz woanders hingeschickt als dich – und ich habe Sehnsucht nach dir! Aber bitte weine nicht, ich komme zurück! Auch wenn die Tage elend langsam vorübergehen – ich trage ein Bild von dir in mir. Und für den Fall, dass mir etwas passieren sollte, trag auch du ein Bild von mir in dir. Wenn ich an dich denke, kommen mir die Tränen. Aber ich komme zurück! Und es dauert gar nicht mehr so lange.

Immer wieder hat mein Vater solche Sätze geschrieben. «Bewahrt meine Bilder auf, das ist ein Andenken an mich.» Schon als junger Mann hat er darüber gegrübelt, dass man ja nicht wisse, was am nächsten Tag passiert, und deshalb hat er in seinen Briefen gebeten, dass man ihn nie vergessen solle, falls ihm etwas zustößt. Als habe er sein Schicksal geahnt.

Als meine Eltern sich Briefe schrieben, haben sie sich tagelang, wochenlang auf den Postboten gefreut. Wenn ich mich heute mit den Briefen meines Vaters beschäftige, ist es ein bisschen so, als würde ich alten Geschichten zuhören. Sie verraten Dinge, die meine Eltern selbst mir nie erzählten, und sie geben mir die Gewissheit, dass ich ein Kind bin, das aus Liebe gezeugt wurde. Es ist schön, diese Briefe zu lesen – zugleich aber auch schmerzhaft, wegen all dem, was dann geschehen ist. Diese Briefe stehen am Anfang eines gemeinsamen Lebens, das noch so lange hätte dauern sollen, und Vater hatte noch so viele Ideen für die Zukunft meiner Mutter. Er hat nie einfach nur für sich geplant, sondern immer auch für sie und für uns. Meine Eltern waren sicher, dass sie sich niemals trennen würden, und diesem gemeinsamen Leben haben sie ein schönes Zeichen gesetzt: Mein Vater hat in Salur ein Grundstück gekauft und darauf zwei Zedern gepflanzt, gemeinsam mit meiner Mutter. Den Baum, der meinen Vater symbolisiert, hat meine Mutter in die Erde eingesetzt, und umgekehrt. Die beiden Bäume stehen sich dort nun über seinen Tod hinaus gegenüber. Immergrün. Und sie wachsen.

 

Als mein Vater nach Deutschland kam, hatte er dichtes Haar und einen Schnauzer, wie er für viele Türken seiner Generation typisch war. Ein junger Mann mit kräftigen Armen, breitem Gesicht und einem unbändigen Tatendrang – nur hatte er leider keinerlei in diesem fremden Land brauchbare Berufsausbildung. Doch kam er zurecht, er konnte ja nun endlich, nach Jahren, bei seiner Frau sein. Zunächst schlüpfte er in Friedberg nahe Frankfurt bei seinem Schwiegervater unter, der dort mit seiner Tochter und den beiden Söhnen Hursit und Hüseyin wohnte. Hier lebten meine Eltern zum ersten Mal zusammen, wenn auch noch nicht unter einem eigenen Dach. Bald darauf kam ich zur Welt, ein Jahr später mein Bruder Kerim, und nach drei beengten Jahren in Friedberg zog die junge Familie dann nach Flieden, eine Autostunde entfernt.

In Deutschland zu leben hieß für meinen Vater vor allem: zu arbeiten. In Friedberg hatte er drei Jahre lang am Fabrikband malocht, gemeinsam mit Hüseyin und Hursit. Nun fing er bei der Firma Phönix, einem Automobilzulieferer in Sterbfritz, nicht weit von Flieden, als Schleifer an. Vater bevorzugte die Spät- oder Nachtschichten, die Zuschläge lohnten sich. Er schuftete im Akkord, und er meldete sich immer, wenn der Meister bekanntgab, dass er Leute für Überstunden brauchte. Durch diesen Fleiß brachte er in manchen Monaten viertausend Mark nach Hause, das war viel für einen Arbeiter. Deutschland war seine Gegenwart, Deutschland würde auch fürs Erste seine Zukunft sein, zumindest für die nächsten Jahre. Aber irgendwo in der Ferne wartete Isparta. Eines Tages, darin waren sich Mutter und Vater einig, würden sie dorthin zurückkehren. Deutschland war für sie eine Station. Deshalb hielten meine Eltern ihr Geld zusammen, lebten bescheiden, und schon nach ein paar Jahren hatten sie genug gespart, um Geld anzulegen: Sie schufen sich damit die Grundlage für ihr späteres Leben in der Türkei. Mit ein paar Landsleuten schlossen sie sich zu einer Art Genossenschaft zusammen. Jedes Mitglied musste zwanzigtausend Mark Startkapital einbringen, und mit der Summe kauften sie gemeinsam ein großes Stück Bauland in Salur und finanzierten dessen Erschließung. Der weitere Plan sah so aus, dass jeder Teilhaber Monat für Monat hundertfünfzig Mark einzahlen sollte. Mit dem Geld sollte zunächst ein Haus gebaut werden, zumindest ein mit dem Wichtigsten ausgestatteter Rohbau, dann noch einer und noch einer, bis in zehn oder zwölf Jahren eine Kleinsiedlung mit je einem Gebäude pro Mitglied entstanden wäre. Das Los sollte dann entscheiden, wer welches Haus bekäme.

Die deutsche Sprache haben meine Eltern eher nebenbei gelernt, bei der Arbeit, im Alltag. Meine Mutter ist in Deutschland zur Berufsschule gegangen, und mein Vater hat in seinen ersten Jahren in der Fabrik viel mit deutschen Kollegen zusammengearbeitet. Da haben sie einfach drauflosgesprochen. Es hat gereicht, um ein bisschen zu reden, sie konnten sich verständigen und haben alles verstanden, aber besonders gut waren meine Eltern beide nicht darin.

Zu Hause haben wir Deutsch und Türkisch geredet. Wenn mein Vater mir eine Frage auf Deutsch gestellt hat, habe ich auf Deutsch geantwortet, wenn er mich auf Türkisch gefragt hat, war die Antwort auf Türkisch. Bei uns gab es Bücher in beiden Sprachen, in beiden musste ich üben, und das war gut so, denn sonst könnte ich jetzt nicht so gut türkisch lesen. Bei meinem jüngeren Bruder haben sie das schon vernachlässigt, da waren sie irgendwie schon deutscher. Das zeigt eigentlich ganz treffend, wie unsere Familie zwischen Deutschland und der Türkei hin- und hergerissen ist. Genau wie es meinem Vater schwergefallen ist, sich an das Leben in Deutschland zu gewöhnen, so fällt es mir heute, nach meinem Umzug in die Türkei, oft schwer, mich an den dortigen Alltag zu gewöhnen, obwohl ich die Sprache spreche. Nach meinem bisherigen Leben in Deutschland fällt mir plötzlich auf, wie viel ich davon vermisse, von der Ordnung im Drogeriemarkt bis zum geregelten Straßenverkehr. Alles ist so übersichtlich, so schön aufgeräumt, alles hat seinen Platz – da geht es in der Türkei schon etwas chaotischer zu. Wenn man an das eine Leben gewöhnt ist, ist es nicht einfach, im anderen anzukommen. Das Essen in der Türkei ist so anders, die Milch dort ist richtig fett und schwer, und das Fleisch schmeckt mir zu intensiv. Und wenn ich das schon schwierig finde, ich mit all meinen Verwandten und nach meinen vielen Urlauben in der Türkei, wie viel schwerer muss es umgekehrt für meinen Vater gewesen sein? Für ihn war alles fremd, als er nach Deutschland kam. Ein anderes Land. Eine eigene Familie. Andere Gewohnheiten. Anderes Wetter.

 

Mein Vater war fleißig und verdiente gut bei Phönix. Aber er war nicht ausgelastet und obendrein sehr ehrgeizig. Also suchte er bald zusätzliche Verdienstmöglichkeiten. An seinen freien Wochenenden schloss er sich einer Putzkolonne an, säuberte verrußte Werkshallen, räumte Dreck und Schmutz weg. Genau wie meine Mutter, auch sie arbeitete auf mehreren Putzstellen. Vater hatte keine Ausbildung, aber er war schlau. Deshalb erkannte er schon bald, dass sich sein Lohn in der Fabrik nicht beliebig steigern ließ, egal, wie viele Stunden er dort auch schuften mochte. Und so begann er, nach weiteren Einkunftsquellen zu suchen. Er wusste zu kalkulieren und wickelte bald seine ersten Geschäfte als Selbständiger ab, zunächst allerdings eher Geschäftchen: Anfang der neunziger Jahre ließ er in einer deutschen Schlachterei Rinder schlachten und verkaufte das Fleisch dann, sauber in Portionen zerteilt, an türkische Landsleute. Die Verdienstspanne hielt sich leider auch hier in engen Grenzen.

Dann aber fielen meinem Vater die Blumenstände auf, die vielerorts am Straßenrand standen, in Parkbuchten oder Feldwegen. Die meisten bestanden aus nicht mehr als einem Klapptisch, einem Schirm und einer Kreidetafel, auf der Waren und Preise notiert waren. Viele dieser Klein- und Kleinstverkäufer waren Türken. Das könnte es sein! Aus seiner Heimat war Vater den Umgang mit Blumen gewohnt, er sah den Blüten an, ob sie frisch waren, und erkannte die ersten Anzeichen ihres Verfalls schon, bevor sie sichtbar welkten. Er hörte sich um und ließ sich die Dinge erklären: Woher bekommt man die Genehmigung, ohne festen Betriebssitz etwas auf der Straße zu verkaufen? Von wem kann man Blumensträuße beziehen? Welche Verkaufsstellen sind vielversprechend? Es ist im Grunde ganz einfach, sagten seine Gewährsleute: Die Deutschen nennen es «Reisegewerbe», du brauchst keine Geschäftsräume, keine Niederlassung, kein Lager, du brauchst nur ein Stück Papier, eine «Reisegewerbekarte», einen Straßenrand, an dem ordentlich Leute vorbeikommen – und die Blumen kriegst du bei Manfred, der verkauft sie aus seiner Garage in Friedberg heraus, oder du gehst zum Großhändler, wo sich auch Manfred eindeckt.

So begann mein Vater 1991 seine Laufbahn als Blumenverkäufer, zunächst nur an den Wochenenden. Anfangs musste er Lehrgeld bezahlen: Er kaufte oft zu viele Sträuße und blieb darauf sitzen, weil der Großhändler sie nicht zurücknahm: Wie viel du dir holst, erklärte ihm der, ist deine Sache. Nach zwei Tagen sind die Sträuße nicht mehr frisch, ich kann die nicht weiterverkaufen. Behalte sie, wirf sie weg, schenk sie deiner Frau, deinen Nachbarn, mach Salat draus, aber zurücknehmen kann ich sie nicht … An anderen Tagen kaufte mein Vater zu wenig Blumen, stand schon am frühen Nachmittag mit leeren Händen da, musste nach Hause fahren und verpasste das beste Geschäft. Aber er begriff schnell. Muttertag zum Beispiel bedeutete: Er konnte viele Blumen verkaufen, dreimal oder fünfmal so viele wie an einem normalen Wochenende. Selbst Leute, die die bescheidenen Tisch-und-Schirm-Blumenstände am Seitenstreifen sonst keines Blickes würdigten, hielten am Muttertag plötzlich an und gaben viel Geld für einen prächtigen Strauß aus.

Natürlich unterliefen Vater Fehler, und es war in Deutschland leicht, etwas falsch zu machen. Immer wieder rückten ihm Polizisten oder Ordnungsbeamte auf die Pelle:

Junger Mann, das Werbeschild, das Sie da an den Leitpfosten gebunden haben – also, so geht’s ja nicht! Haben Sie für Ihre Werbeschilder überhaupt eine Genehmigung? Nein, nicht die Gewerbekarte, Sie brauchen eine extra Genehmigung für das Schild. Haben Sie nicht? Das kostet natürlich etwas …

An Ihrem Stand fehlt Ihr Name, ist Vorschrift, und auf die Tafel hier müssen Sie die Blumenpreise schreiben, sonst könnten Sie die Preise ja gleich frei Schnauze machen, das wäre ja noch schöner …

Es ist neunzehn Uhr, aber an diesem Standort dürfen Sie laut Genehmigungsbescheid des Liegenschaftsamtes nur bis achtzehn Uhr verkaufen … So, Sie haben Ihre Reisegewerbekarte zu Hause … Und Moment mal, Ihre Verkaufsfläche kommt mir auch ganz schön groß vor – dürfen Sie sich überhaupt so breitmachen?