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Vorwort

Die Eurokrise ist ein tiefer Einschnitt. Sie stellt die Integration Europas unter Vorherrschaft der liberalen Eliten, so wie sie seit Mitte der 1980er-Jahre in Form des Binnenmarktes und der Währungsunion ins Werk gesetzt wurde, vor eine historische Zerreißprobe.

Noch vor wenigen Jahren genoss die Europäische Union die Unterstützung bedeutender Mehrheiten. Sie stand für mehr als bloß den europäischen Ausdruck des globalen neoliberalen Projekts. Sie verkörperte die Hoffnung auf gefestigte Demokratie, Prosperität und soziale Konvergenz (die Überwindung der großen Entwicklungsunterschiede) sowie eine stabile Friedensordnung für den Kontinent, der jahrhundertelang von zerstörerischen Konflikten geplagt worden war. Doch die europäistische Erzählung hat im letzten Jahrzehnt signifikant an Überzeugungskraft verloren, vor allem bei den unteren und mittleren Schichten und da insbesondere an der Peripherie, in den Ländern am Rande Europas – wo der soziale Niedergang und die politische Entmündigung am deutlichsten ihre Wirkung entfalteten. Politischer Kristallisationspunkt ist die zunehmende Ablehnung des von Deutschland dominierten Euro-Regimes, das nicht nur die Austeritätspolitik zu verewigen scheint, sondern auch autoritäre Züge annimmt, die Europa zu spalten drohen.

Der Kriseneinbruch 2007/08 war ein weltweites Phänomen und zeigt die Schwierigkeiten der Globalisierung an. Doch die Krise hat ein starkes selbstständiges europäisches Moment, das durch die Funktionsweise der Währungsunion verstärkt wurde und wird. Sie ermöglichte in der ersten Phase an der Peripherie einen beispiellosen Kreditboom, der mit der Weltwirtschaftskrise in eine ebenso extreme Depression umschlug, weiter vertieft durch die vom Zentrum verordnete Austerität. Die Analyse der verschiedenen Aspekte der bis heute akuten Eurokrise – mit dem Hauptaugenmerk auf die Wirtschaft – ist der eine Teil dieser Arbeit.

Wir gehen davon aus, dass die in Europa aufgestauten Widersprüche zu heftigen Konflikten zwischen Eliten und Subalternen sowie zwischen Zentrum und Peripherie führen werden – die griechischen Ereignisse sind Vorbote davon. Erstmals seit den 1980er-Jahren, als der keynesianistischen Sozialreform eine vernichtende Niederlage zugefügt wurde, werden die neoliberalen Institutionen ernsthaft infrage gestellt.

Das Ergebnis des heraufziehenden Zusammenstoßes ist offen. Bisher führte die Krise jedenfalls zur enormen Beschleunigung der supranationalen Zentralisierung unter der Kontrolle von Berlin und Brüssel. Auf der anderen Seite bildet sich seit geraumer Zeit eine vielgestaltige Tendenz zur Rückkehr zum Nationalstaat heraus, getragen vom Wunsch der unteren und mittleren Schichten, der Austerität ein Ende zu setzen und wieder politischen Einfluss zurückzugewinnen. Es zeichnet sich eine politische Alternative ab, die um die Begriffe Renationalisierung, Volkssouveränität, Demokratie, Umverteilung kreist. Die politischen Tendenzen der Krise zu analysieren, füllt den anderen Teil dieses Buches.

Weder können wir eine verlässliche Prognose über die Ergebnisse der Krise abgeben, noch wollen wir ein politisches Manifest entwerfen. Vielmehr geht es uns darum, die in der gegenwärtigen Realität angelegten Tendenzen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu begreifen und freizulegen. Dies mag als Vorarbeit oder Grundlage zum politischen Handeln dienen. Darum legen wir auch kein akademisch-wissenschaftliches Buch vor, sondern versuchen uns in verständlicher Sprache an ein interessiertes Publikum zu wenden.

Gleichzeitig lehnen wir den Anspruch auf Objektivität in der Beschäftigung mit Gesellschaft ab, denn jeder ist in dieser ein interessenbehaftetes Subjekt. Wir bekennen uns zu den Interessen der Subalternen, der Mehrheit, und definieren diese als Willen zur Emanzipation im umfassenden Sinn: von der politischen Demokratie, über die soziale Gerechtigkeit in Richtung größerer Gleichheit bis hin zur kulturellen Selbstbestimmung – in dieser Tradition bedienen wir uns einer historisch-kritischen Methode.

Dabei verwenden wir nicht nur den oppositionell-heterodoxen (abseits der herrschenden Lehre gelegenen) volkswirtschaftlichen Begriffsapparat, sondern setzen immer wieder auch an jenem des orthodoxen Mainstreams an – auch weil er durch seine Wirkungsmacht Teil der herrschenden Realität ist.

Der Ansatz, Gesellschaft als etwas zu Gestaltendes zu verstehen, darf sich nicht auf eine der akademischen Disziplinen beschränken, sondern muss diese querbeet kombinieren und die künstlichen Demarkationen einreißen: Wirtschaft, Soziologie, Geschichte, Politik, Kultur, Ideologie, Methodologie usw. Wir versuchen das und wählen in der Darstellung sowohl eine historische als auch eine systematische Struktur, die sich abwechselt und unterbricht. Das ist auch der Tatsache geschuldet, dass zwei Autoren für einen monographischen Text verantwortlich zeichnen.

Einige Themen mögen Leser vermissen, wenn es um grundsätzliche andere Sichtweisen oder Entwicklungsoptionen geht:

Da sind einmal die alternativökonomischen Ansätze, denen gemeinsam ist, dass sie den Staat als Werkzeug der Gesellschaftsgestaltung links liegen lassen. »Jenseits des Staates« nannte das die Antiglobalisierungsbewegung im Gefolge der mexikanischen Zapatisten in den 1990er-Jahren. Mittlerweile sollte klarer sichtbar geworden sein, dass dem Staat jedenfalls eine zentrale Rolle zukommt, dass Politik sich im Kern um staatliche Macht dreht.

Im weitesten Sinne damit verwandt ist die Wachstumskritik, der wir in wichtigen Aspekten folgen können – die jedoch zu Verallgemeinerungen neigt. Unser Anliegen ist eine gerechtere und gleichmäßigere Verteilung, was in einigen Bereichen Wachstum erfordert. Zudem kennt der Kapitalismus keine stationären oder linearen Zustände, sondern bewegt sich in Form von sich selbst verstärkenden dynamischen Schwingungen nach oben wie nach unten.

Was Geld ist, stellt ein Thema für sich dar und kann im Rahmen dieses Buches nur gestreift werden. Die Zinskritik ist so alt wie die Zivilisation, bereits Gegenstand von Bibel und Koran und tendiert zur Esoterik. In diesem Buch sind Geldpolitik sowie Zinsentwicklung ein zentrales Thema, sie werden aber nicht schlechthin betrachtet und auch nicht als wesentliche Ursache der Misere.

Bisher vermochte der (neo)liberale Kapitalismus seine ideologische Hegemonie weitgehend zu verteidigen. Doch die Euro-Krise drängt vor allem in Südeuropa nach Alternativen, unter denen sich auch neo-sozialistische anbieten. Die Konfrontation mit dem Zentrum und die Möglichkeit des Bruchs haben solche Varianten wieder auf das Tapet gebracht.

Wir befassen uns mit diesen aber nur in den allerersten, heute konkreten Schritten, denn alles Weitere würde zuerst eine Auseinandersetzung mit dem Scheitern des Sozialismus im Osten voraussetzen, die hier nicht geleistet wird.

Politisch-konkret drängt sich gegenwärtig eine an Nationalstaaten gebundene Politik des bewussten gesellschaftlichen Eingriffs, der Umverteilung, der Kontrolle des Finanzsektors und der Wirtschaftssteuerung auf, für den nicht nur die am unteren Ende eintreten, sondern selbst einige in höheren Etagen – mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen. Solche Ideen greifen zurück auf Ansatzpunkte des Nachkriegskeynesianismus. Bis in die 1970er-Jahre beeinflussten sie unter völlig anderen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen Teile der Wirtschaftspolitik. Heute würde diese Alternative einen tiefen Bruch mit der gegenwärtigen Herrschaft erfordern, mit enormen Konsequenzen.

Wir wollen allen danken, die das Manuskript gelesen und uns mit Hinweisen geholfen haben – und insbesondere Albert F. Reiterer, der unsere Arbeit ausführlich kritisierte und damit verbesserte.

Stefan Hinsch/Wilhelm Langthaler
Wien, im Jänner 2016

Westeuropäische Vereinigung nach dem Zweiten Weltkrieg

Zusammenschluss unter US-Vorherrschaft

Die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg war total. Wie der britische Historiker Eric Hobsbawm ausführte, beendete sie die bipolare Organisation des kapitalistischen Weltsystems aus anglosächsisch geführter Entente und deutscher Achse und den damit verbundenen Kampf zweier Zentren, der den Ersten mit dem Zweiten Weltkrieg verband und zu einem einzigen Konflikt um die Vorherrschaft machte. Der Kapitalismus hat seit damals sein unumstrittenes Zentrum in den USA gefunden.

Der alte Konflikt im eigenen Lager wurde jedoch nach Beendigung des Krieges durch einen neuen besonderer Art überlagert, jenen mit der Sowjetunion, die den Anspruch auf die Überwindung des Kapitalismus stellte. Die UdSSR repräsentierte nicht nur die globale kommunistische Bewegung, sondern stand auch in enger Verbindung mit den antikolonialen Bewegungen und Modernisierungsversuchen an der Peripherie – obwohl diese Beziehung oft auch von Konflikten geprägt war.

Während des Krieges war in den USA noch der Morgenthau-Plan kursiert. Der US-Finanzminister Henry Morgenthau hatte 1944 den Vorschlag zur Deindustrialisierung Deutschlands lanciert, der sich allerdings schon damals im US-Staatsapparat nicht durchzusetzen vermochte, weil er der fortgesetzten Zusammenarbeit mit der Sowjetunion bedurft hätte.

Der Vormarsch der Roten Armee bis nach Berlin ins Herz Europas stellte Washington vor eine völlig neue Situation, zumal die Kommunisten als stärkste Kraft des antifaschistischen Widerstands in vielen westeuropäischen Ländern tiefe Wurzeln geschlagen hatten. Während Paris ein neues Versailles vorschwebte und Deutschland mittels Reparationen für die Verbrechen der Nazis zahlen lassen wollte, befand sich Washington schon in der Schwebe zwischen der Fortsetzung der Anti-Hitler-Koalition gegen Deutschland und dem aufziehenden Kalten Krieg. Erst mit der 1947 verkündeten Truman-Doktrin avancierte die Sowjetunion zum neuen Hauptfeind und die amerikanische Politik wurde dem Ziel ihrer Bekämpfung untergeordnet.

Die USA handelten im Bewusstsein ihrer totalen Übermacht. Nach Kriegsende wurde rund die Hälfte des Weltsozialprodukts in den Vereinigten Staaten erwirtschaftet. Ihre Politik war nicht allein von unmittelbaren Vorteilen, sondern auch durch die vermittelten Interessen als globaler Führungsmacht bestimmt. Zuerst ging es darum, im besetzten Deutschland soziale Unruhen zu vermeiden und sozialrevolutionäre Szenarien wie nach dem Ersten Weltkrieg schon im Keim zu ersticken. Doch sehr schnell begriffen die USA, dass Deutschland der wichtigste Frontstaat zur UdSSR werden würde und dessen wirtschaftliche Kraft zur Entwicklung des unter ihrer Kontrolle befindlichen Teil Europas verwendet werden könnte. Zudem lag die neu zu schaffende politische Führung Deutschlands in ihren Händen.

Das galt weder für Frankreich noch für England. Beide Staaten befanden sich zwar im Lager der Sieger, doch waren sie vom Krieg wirtschaftlich schwer gezeichnet. In Frankreich hatte die Résistance einen starken Nationalismus weiterleben lassen, der von de Gaulle auf der einen Seite und den Kommunisten auf der anderen geprägt war – für Washington nicht gerade verlässliche Partner. Auch in Großbritannien war es zu einem Linksschwenk gekommen. Bereits die Tory-Kriegsregierung Winston Churchills hatte beim Fabianer Lord Beveridge eine Studie in Auftrag gegeben, die den Aufbau eines Wohlfahrtsstaats vorsah und auch in konservativen Kreisen auf Zustimmung stieß. Befeuert durch die Notlage nach Kriegsende und getragen von der allgemeinen Stimmung nahm die neue Labour-Regierung nicht nur den Aufbau eines umfassenden Sozialstaates in Angriff, sondern führte auch einzelne Verstaatlichungen durch. Im beginnenden Kalten Krieg für die USA ideologisch unangenehm waren außerdem die Ideen vom »Übergang zum Sozialismus«, denen sich die Labour Party verpflichtet fühlte. Auch wenn Premierminister Attlee keine konkreten Angaben machte, wie er diese Transformation umsetzen wollte.

Mit Beginn des Kalten Krieges 1947/48 legten die USA den Marshallplan auf, das Gegenprogramm zu Versailles ein Vierteljahrhundert zuvor. Europa wurde im Wesentlichen entlang der militärischen Demarkationslinie mit der UdSSR geteilt und Deutschland gespalten. Statt dem so entstandenen Westdeutschland Reparationen abzuverlangen, förderte man dessen überlegenes wirtschaftliches Potenzial sogar noch, während die Ansprüche Frankreichs und der anderen Geschädigten mittels der Marshallplan-Hilfen abgedeckt wurden. Dabei taten die USA alles, um den Austausch und die Kooperation zwischen den westeuropäischen Staaten zu unterstützen und den wirtschaftlichen Aufschwung in Gang zu setzen.

Als sich 1950 der Kalte Krieg in Korea in einen globalen heißen Krieg umzuwandeln drohte, gab es keinen Zweifel mehr für die amerikanische Strategie in Europa. Westdeutschland wurde nicht nur wirtschaftlich vollständig rehabilitiert, was sich beispielsweise am 1953 unterzeichneten Londoner Schuldenabkommen mit den Reparationsgläubigern zeigte (bei dem rund die Hälfte der Forderungen fallengelassen wurden und die verbleibende Summe sich auf ca. ein Fünftel des BIP reduzierte). Sondern die USA erlaubten dem Land auch die Wiederaufrüstung, was 1955 in den Beitritt zur NATO mündete.

Die westeuropäische Integration war von Anfang an von globalen politisch-militärischen Erwägungen geleitet und weniger von wirtschaftlichen, bei denen die diversen nationalen Interessen viel widersprüchlicher, ja gegensätzlicher auftraten. Der deutsche Wirtschaftshistoriker Abelshauser (2011: 14) spricht zutreffend vom Primat der Politik.

Die Nachkriegsrealverfassung Westeuropas wurde also von den USA geschrieben und die deutsche Frage durch Teilung beantwortet. Den USA ging es um gemeinsame wirtschaftliche Entwicklung und Stabilität unter ihrer Schirmherrschaft, um gegen die UdSSR Front zu machen. Ein vereinigtes neutrales und demilitarisiertes Deutschland, das als Alternative galt, hatte keine Chance.

Neben der weniger im Blickpunkt stehenden amerikanischen Vorherrschaft, gilt die deutsch-französische Achse berechtigterweise als Kernstück der EU und ihrer Vorläufer. Doch war und ist diese Verbindung keineswegs frei von Widersprüchen, Gegensätzen und Konflikten, die auch das Potenzial in sich bergen, das gesamte Projekt zu sprengen. Es ist ein Zweckbündnis ungleicher Partner. Frankreich ist wirtschaftlich strukturell unterlegen. Deutschland wiederum wurde durch den gescheiterten Versuch, seine alleinige Herrschaft über Europa militärisch zu erzwingen, in seinem politischen Handeln wesentlich eingeschränkt. Darüber thront die amerikanische Macht, der nur gemeinsam ein Gegengewicht gegenübergestellt und damit Spielraum gewonnen werden kann. Washington drängt Frankreich und Deutschland aneinander – und wollte das auch immer. Doch schon leichte Veränderungen im Kräfteverhältnis können dieses fein austarierte Gleichgewicht in Schwierigkeiten bringen.

Frankreich und der Versuch des europäischen Dirigismus

Frankreich wollte nach dem Ende des Krieges Deutschland ein für alle Mal niederhalten. Die US-Militärverwaltung schien diesem Ziel anfangs formal verpflichtet, obwohl sie de facto nicht so handelte.

Das Saarland wurde aus der französischen Militärverwaltung aus- und Frankreich direkt als Protektorat eingegliedert. Anders als in den zur »Bizone« vereinigten amerikanischen und britischen Besatzungsgebieten, kam es unter der französischen Besatzung zu massiven Demontagen und vor allem zu Entnahmen aus der laufenden industriellen und landwirtschaftlichen Produktion – als Reparationen. Laut Abelshauser (2011: 77) überstiegen diese Entnahmen sogar jene in der sowjetischen Besatzungszone. Frankreich wehrte sich auch lang dagegen, sein deutsches Territorium nach Westdeutschland einzugliedern, was seiner Wirtschaftspolitik, die auf die Nutzung der von ihm kontrollierten deutschen Ressourcen baute, ein Ende bereitet hätte. Später kam es tatsächlich so.

Kernstück der französischen Politik war aber das »Ruhrstatut«, aus dem letztlich – mit einigen, allerdings entscheidenden Einschnitten und Transformationen – die Institutionen der EU entstanden.

Das Ruhrgebiet war das schwerindustrielle Herz des Deutschen Reiches und damit auch der Rüstungsindustrie gewesen, das sich nach dem Krieg in der britischen Zone befand. Frankreich forderte vehement die internationale Kontrolle über die deutsche Montanindustrie, um insbesondere ein Wiedererstarken Deutschlands als Militär- aber auch als Wirtschaftsmacht im Allgemeinen zu unterbinden. Im Zuge des schrittweisen und zögerlichen Zusammenschlusses der Bizone mit dem französischen Besatzungsgebiet zum späteren Westdeutschland beschlossen die Siegermächte USA, Frankreich, Großbritannien sowie die Benelux-Staaten unter Ausschluss der UdSSR 1949 das Ruhrstatut. Es legte die Kontrolle über die Montanindustrie in die Hände einer internationalen Hohen Behörde. Nachdem die westdeutsche Regierung trotz Unzufriedenheit ihrer Wirtschaftseliten das Statut akzeptiert hatte, erhielt sie ebenfalls Sitze in der Behörde zugestanden. Ihr war nichts anderes übrig geblieben, als zu nehmen, was ihr geboten wurde.

Die französische Bürokratie hatte angesichts der Eskalation des Kalten Krieges mittlerweile zur Kenntnis genommen, dass die USA ihren Plan, Deutschland niederzuhalten, nicht akzeptieren würden. Jean Monnet, der Leiter des »Commissariat général du Plan«, der auch wesentlich an der Ausarbeitung des Ruhrstatuts beteiligt gewesen war, preschte 1950 mit einem kühnen Unterfangen vor, das durch den ehemaligen Außenminister Robert Schuman präsentiert und nach ihm benannt wurde. Schuman bot Deutschland die gemeinsame Verwaltung und Lenkung der Schwerindustrie beider Länder an. Den anderen europäischen Staaten wurde freigestellt sich anzuschließen. Bundeskanzler Adenauer nahm sofort an, denn er sah in dem Vorhaben ein weiteres Stück Souveränitätsgewinn. Der mächtige marktfundamentalistische Wirtschaftsminister Erhard sprach sich indes dagegen aus, denn er lehnte den planenden staatlichen Eingriff nach französischer Art ab, konnte aber die Gründung der Montanunion 1951 nicht verhindern.

Jedenfalls ging daraus 1951 der Kern der heutigen EU hervor, die »Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl« (EGKS) als supranationale Behörde. Großbritannien beteiligte sich nicht mehr, während Italien zu den Signatarstaaten des Ruhrstatuts hinzustieß.

Die französische Staatsbürokratie hatte nicht nur die Stärkung der französischen Schwerindustrie im Sinn, die als Schlüssel in der Konkurrenz mit Deutschland galt. Sie strebte nach viel mehr: Aus gemeinsamen supranationalen Institutionen entstünde letztlich ein europäischer Suprastaat. Angesichts der historischen Niederlage Deutschlands würde Paris die führende Rolle zufallen. Das französische Konzept des staatlichen Dirigismus sollte auf ganz Europa angewandt werden. Denn in Frankreich war es nicht allein die Linke, die sich für staatliche Eingriffe im Interesse der Arbeiterklasse stark machte und so die Handlungsfähigkeit des Kapitals zu beschränken versuchte. Sich auf die Tradition der Französischen Revolution stützend, sahen weite Teile der Bourgeoisie die planende Intervention des rationalen Staates ebenfalls als wichtigstes Mittel zur Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft und insbesondere dafür, den schmerzhaften Abstand zu Deutschland zu schließen. »Einholen und überholen« war nicht nur die Losung Chruschtschows und vorher schon der Industrialisierung der Sowjetunion, sondern auch der implizite Leitspruch der Pariser Intellektuellen und Beamten. Einem ihrer wichtigsten Exponenten, dem Philosophen Alexandre Kojève, sagt der österreichische Soziologe Albert F. Reiterer (2014: 15f) nach, Vertreter eines bürgerlichen Stalinismus gewesen zu sein, mit dem Ziel, ein europäisches Imperium, geführt von einer rationalen Staatsbürokratie, nach dem französischen Modell zu schaffen.

Wenn ein Zeitpunkt für eine solche Operation französischer Machtausdehnung jemals geeignet gewesen war, dann gerade die Periode der größten deutschen Schwäche nach dem verlorenen Krieg. Doch der Verlauf des Koreakrieges (1950–53) machte diesen Träumen sehr schnell den Garaus. Die USA erzwangen die Wiederbewaffnung Deutschlands und die weitgehende Aufhebung aller Produktionsbeschränkungen. Wieder drohte Deutschland an Frankreich vorbeizuziehen, nicht allein in der Montanindustrie.

Doch Jean Monnet ließ nicht locker. Die Pariser Beamten legten an Kühnheit nochmals nach und radikalisierten ihren Plan, der nun an das Eingemachte gehen sollte. Sie schlugen eine gemeinsame europäische Armee in Form der »Europäischen Verteidigungsgemeinschaft« (EVG) vor. Damit wäre der direkte amerikanische Zugriff auf Westdeutschland, dessen Einbindung in die NATO und Wiederaufrüstung blockiert worden. Bonn zögerte, doch in der Logik Adenauers, der graduellen, auf Kompromissen und Kooperation mit den Westmächten und besonders Frankreich aufgebauten Rückgewinnung deutscher Souveränität, war man geneigt zuzustimmen, ohne jedoch Amerika vor den Kopf stoßen zu wollen.

Der »Dolchstoß« in Frankreich kam aus den eigenen Reihen. Gaullisten und Kommunisten brachten den Plan 1954 zu Fall, der so gar nicht zur Grundstimmung der Zeit passen wollte. Gerade erst hatte man den Nazi-Albtraum und das Vichy-Statthalterregime abgeschüttelt. In halb Europa hatten mächtige nationale Widerstandsbewegungen mit starken oder gar dominanten kommunistischen Komponenten verlustreich die deutsche Besatzung bekämpft. Eine sozialrevolutionäre Welle wie nach dem Ersten Weltkrieg lag in der Luft. Dieser konnte nicht allein mit den Marshallplan-Krediten begegnet werden, sondern auch mit einer nie dagewesenen Entwicklung demokratischer Institutionen und dem sozialen Schutz der unteren Schichten im Rahmen der Nationalstaaten.

Der Monnetsche supranationale Staat musste angesichts der Kräfteverhältnisse zum Rohrkrepierer werden. Nachdem Paris den supranationalen Kern der EU-Institutionen geschaffen hatte, zog es sich für Jahrzehnte auf die Position der Intergouvernementalität, des Bündnisses souveräner Staaten, zurück, während das anfänglich skeptische Deutschland mit zunehmender Verve den Supranationalismus vorantrieb, der seiner Machtentfaltung zuträglich war und ist. Mit der Einführung des Euro sollte sich dieser Zyklus später wiederholen.

Deutschland AG

Das Schicksal Deutschlands war nach der Kapitulation keineswegs eine so ausgemachte Sache, wie es heute scheinen mag. Es herrschte eine antikapitalistische Stimmung vor, denn nicht nur der liberale Kapitalismus der Weimarer Republik war gescheitert, sondern auch seine militaristisch-etatistische Variante in Form der Weltmachtträume der Nazis, die trotz aller Brüche auch starke Kontinuitäten zum Wilhelminischen und Bismarckschen Kapitalismus aufwiesen. Die Forderung nach Verstaatlichungen insbesondere in der Montanindustrie war weit verbreitet und führte in den Regionalvertretungen mehrfach zu Beschlussfassungen, die allerdings von den Besatzungsmächten unterbunden wurden. Das Ziel der »Gemeinwirtschaft« war eine allgemein akzeptierte Formel. Abzulesen ist diese Stimmung auch daran, dass selbst eine dem Kommunismus so unverdächtige Kraft wie die CDU von der Überwindung des Kapitalismus sprach (siehe das Ahlener Programm von 1947 mit der Losung »CDU überwindet Kapitalismus und Marxismus«).

Ebenso wenig war die Teilung Deutschlands im Voraus bestimmt. Die Sowjetunion, die im Gegensatz zu den USA vom Krieg erschöpft war, wiegte sich in der Hoffnung, die Kooperation von Jalta fortsetzen zu können, an deren Demarkationen sie sich folgerichtig streng hielt. Doch während man die Welt aufgeteilt hatte, war der Status des gemeinsamen Gegners Deutschland ungeklärt geblieben. Moskau neigte zu einem entmilitarisierten, bündnisfreien, neutralen Deutschland (das zeigt auch die Stalin-Note von 1947), ein Status, wie er für Österreich schließlich Realität werden sollte. Doch die Westmächte und Adenauer lehnten ab. Um die Frage der Ernsthaftigkeit des sowjetischen Angebots entspann sich ein bis heute anhaltender historiographischer Streit, denn der akademische Mainstream der BRD konnte die damit verbundene Schuldzuweisung für die Spaltung Deutschlands nicht auf sich sitzen lassen.

Man muss das besondere und ungleiche historische Verhältnis, das Russland zu Deutschland pflegt, in Betracht ziehen. Zwar waren die beiden Großmächte immer Konkurrenten, und Deutschland hatte Russland mehrfach angegriffen, doch schwang neben der Selbstbehauptung von russischer Seite immer auch Bewunderung mit. Daraus ergaben sich der Versuch der Nachahmung sowie der Wunsch nach Kooperation. Das galt nicht nur für Katharina die Große (russische Kaiserin von 1762–1796), die selbst Deutsche war und im Sinne des aufgeklärten Absolutismus mit Menschen, Technik und Kultur aus Deutschland Russland zu modernisieren versuchte. Nach dem von Deutschland diktierten, sehr kostspieligen Brester Separatfrieden 1918 ging das revolutionäre Russland, angesichts der fortgesetzten aggressiven Haltung der Entente, schließlich 1922 mit Deutschland die Kooperation von Rapallo ein. Selbst mit Hitler unterzeichnete Stalin einen Nichtangriffspakt und wollte dessen Vertragsbrüchigkeit lange nicht wahrhaben. Ein neutrales Deutschland hätte vielleicht einen dritten Pol auf der Welt darstellen können, der Moskau als Schutzschirm gegen den überlegenen Westen gedient hätte.

Doch die USA hatten den zweiten Sieger Sowjetunion sowie die globale Arbeiterbewegung, mit den Kommunisten als deren wichtigster Strömung, als größte Bedrohung nicht nur ihrer globalen Vorherrschaft, sondern des kapitalistischen Systems überhaupt ausgemacht. Sie erhoben das nun in ihrer Hand befindliche zweite globale kapitalistische Zentrum, Deutschland, zum Kernstück ihres Systems in Europa und entschieden sich für die Teilung. Ab dann ging alles sehr schnell.

Die Nazis, als Kopf des deutschen Staatsapparates, waren keine Gefahr mehr. Die Nürnberger Prozesse reichten der US-Militärverwaltung – diese halten in ihrem Ausmaß z. B. keinem Vergleich mit der »Debaathizierung« nach dem »regime change« im Irak 2003 stand. So stützte sich die amerikanische Besatzung auf die darunter liegenden staatlichen und parastaatlichen Institutionen, die oft eine Tradition bis zurück zu Bismarck aufwiesen. Auch das alte Parteiensystem erstand wieder. Um dem sozialen Unmut und den bisweilen antikapitalistischen Tendenzen zu begegnen, bedurfte es nun – wie im übrigen Westeuropa auch – des Nachkriegsaufschwungs, dessen Kern das deutsche »Wirtschaftswunder« wurde. Damit gelang es, die durch den Nationalsozialismus zerschlagene Arbeiterbewegung nicht mehr als systemoppositionelle Kraft wiederentstehen zu lassen, sondern sie im Gegensatz zu den meisten anderen westeuropäischen Ländern vollständig zu integrieren.

Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass Westdeutschland nicht nur über die am meisten entwickelte Industrie Europas verfügte, sondern diese durch die enormen Investitionen des Krieges hochproduktiv war. Die Zerstörungen erwiesen sich indes als erstaunlich gering, und betrafen vor allem das Transportwesen und die Wohnunterkünfte. Ausgebildete Arbeitskräfte gab es dank der deutschen Flüchtlinge aus dem Osten genügend, wie Abelshauser beschreibt (2011: 69-72). Zu einem Neuanfang bedurfte es vor allem der politischen Voraussetzungen, deren Grundstein die amerikanische Militärverwaltung legte und schnell an das bestimmende Duo Adenauer-Erhard übergab. Sie bekannten sich aus Überzeugung zum wichtigsten Prinzip der amerikanischen Vorherrschaft, nämlich dem Freihandel. Solange Washington ihrer Loyalität sicher war und die Eingliederung in ihre globale Architektur nicht infrage stand, erhielten sie relative Autonomie.

Ludwig Erhard, Wirtschaftsminister von 1949 bis 1963, repräsentierte den Bruch mit der traditionell korporatistischen Wirtschaftsverfassung Deutschlands. Er versuchte die Nachkriegssituation zu nutzen, um die Macht der Verbände sowohl auf Arbeitnehmer- als auch auf Arbeitgeberseite zugunsten eines freien Preisbildungsmechanismus zu minimieren. Er lehnte nicht nur staatliche Planung und Intervention in die Wirtschaft ab, sondern auch den Aufbau des Sozialstaates. Erhard galt als bekennender Atlantiker und vertrat Positionen, die einem amerikanischen Wirtschaftsliberalismus sehr nahe kamen.

Obwohl beide als Vertreter der Schule des bis heute dominanten Ordoliberalismus gelten, setzte der Kanzler Konrad Adenauer (Amtszeit ebenfalls 1949–63) gegen Erhard die Rentenreform durch, die als Speerspitze des späteren Sozialstaats gilt. Adenauer kann als Vertreter jener Kräfte verstanden werden, die zu dem führten, was in unexakter Weise »Soziale Marktwirtschaft« oder »Rheinischer Kapitalismus« genannt wird und lange Zeit als Vorteil galt und auch als Vorbild wirkte. Es war die Rückkehr und die Weiterentwicklung des korporativen Systems, in dem die Autonomie der Verbände (Unternehmerverbände und Gewerkschaften) eine entscheidende Rolle spielt. Sozialstaat und substanzielle Zugeständnisse an die Arbeitnehmer werden durch die Verbände letztlich so moderiert, dass der Produktivitätszuwachs strukturell über den Lohnzuwächsen liegt. Darauf beruht im Kern der Erfolg des deutschen Modells im Rahmen des globalen Kapitalismus.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zu den USA soll nicht unerwähnt bleiben: die indirekte Wirtschaftslenkung durch die politische Kontrolle der Banken. Das ist mit dem Ausdruck Deutschland AG auch gemeint.

Die Erhard-Linie erwies sich zwar als die letztlich schwächere, doch übte sie dennoch erheblichen Einfluss aus und bestimmte damit die Wirtschaftspolitik mit. Als kompromisslose Vertreter des Freihandels orientierten sich die Parteigänger Erhards auf den Weltmarkt, für den sie sich gut gerüstet wussten. Die Kompromisse mit den Pariser Forderungen, die auf den Schutz eines entstehenden europäischen Marktes abzielten, widersprachen ihrem Konzept. Doch Adenauer setzte sich durch, denn nur so waren die deutsch-französische Achse sowie die europäische Integration möglich, die zu zentralen Projekten der deutschen Eliten wurden.

So unterschiedlich diese beiden Linien waren, so lehnten doch beide die Hinnahme erhöhter Inflationsraten durch den Nachkriegskeynesianismus ab und insistierten auf einer Hartwährungspolitik. Das reflektiert die internationale Gläubigerposition, erzielt durch tendenzielle Außenhandelsüberschüsse, die wiederum durch den Produktivitätsvorsprung einerseits und die Schwäche der Interessenvertretung der Lohnabhängigen andererseits zu erklären sind. Diese orthodoxe Geldpolitik gab den deutschen Eliten einen versteckten, aber umso wirkungsvolleren sozioökonomischen Hebel in ganz Europa, insbesondere seitdem die D-Mark nach dem Ende von Bretton Woods und der Dollarbindung zur europäischen Leitwährung wurde. Die BRD war wieder zur dominanten Macht aufgestiegen, ohne dass sich das politisch direkt und unmittelbar zeigen konnte.

Verträge von Rom: Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

1956 stürzten sich England und Frankreich auf Drängen Israels in ein spätkoloniales Abenteuer. Als das nationalistische Offiziersregime Nassers den Suezkanal verstaatlichte, griffen London und Paris an der Seite Israels in Ägypten militärisch ein. Doch zu ihrem Entsetzen stellte sich Washington nicht an ihre Seite und blieb dem alten Prinzip des US-Präsidenten während des Ersten Weltkriegs Woodrow Wilson treu: dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Aufbrechen der europäischen Kolonialreiche und deren Übernahme in den amerikanischen Einflussbereich. Der Schock saß tief. Globale Machtentfaltung ohne direkte US-Unterstützung war nicht mehr alleine, sondern nur mehr im Verein mit einer europäischen Einigung möglich.

Mit der Frage der globalen Macht war damals unmittelbar und zentral die atomare Bewaffnung verbunden, über die nur die USA und die UdSSR verfügten. Auch Großbritannien hatte 1952 seine erste Bombe gezündet, doch in völliger Abhängigkeit zu den USA, die ihre Unterstützung in der Suez-Krise jäh einstellten. Auch Frankreich war mit der Entwicklung der Bombe alleine überfordert.

So war der nächste Vorstoß zur westeuropäischen Einigung wieder politisch-militärisch getrieben, nicht so sehr wirtschaftlich. Kurze Zeit beteiligte sich London sogar führend, doch sehr schnell wurde klar, dass sein logischer Platz an der Seite Washingtons war, das die atomare Bewaffnung Großbritanniens zu viel besseren Konditionen und auch viel schneller sichern konnte. Wirtschaftspolitisch waren die Freihandelsvorstellungen Englands und die privilegierten Beziehungen mit seinen ehemaligen Kolonien nicht vereinbar mit Frankreichs »kleineuropäischem Protektionismus«. Auch in Deutschland meldete Erhard die bekannten Bedenken an, denn für ihn war der Weltmarkt Deutschlands Bestimmung. Doch in Bonn überwogen die politischen Erwägungen. Die Vorteile eines nächsten großen Schritts auch der militärischen Rückkehr in die westliche Staatengemeinschaft waren unübersehbar. Man stand knapp an der Schwelle zur Atommacht, doch deren Symbolik erwies sich letztlich als zu stark.

So wurden 1957 die Verträge von Rom von Frankreich, Deutschland, Italien und den Benelux-Staaten unterzeichnet. Sie sahen neben der Fortsetzung der Montanunion, das gemeinsame Atomrüstungsprogramm Euratom sowie die schrittweise Einführung einer Zollunion und die Aufhebung von Handelsbeschränkungen vor. Das Ziel der Währungsunion wurde bereits formuliert, ohne jedoch weiterverfolgt zu werden.

Der supranationale Rahmen blieb zwar aufgespannt, doch die neuen Institutionen bauten im Wesentlichen auf dem intergouvernementalen Prinzip auf. Im Gegensatz zur Hohen Behörde der Montanunion beschränkte sich die Funktion der Kommission darauf, ausführendes Organ des Ministerrats der Mitgliedsstaaten zu sein, in dem Entscheidungen im Konsens gefällt werden mussten.

Leerer Stuhl: Frankreichs Blockade

Nachdem der Antrieb des Zusammenschlusses vor allem geopolitisch ausfiel, ließen (wirtschafts)politische Konflikte nicht auf sich warten – umso mehr, als in Frankreich 1958 de Gaulle die Macht übernahm und die Fünfte Republik ausrief. Im Zentrum seiner Anstrengungen lag die Wiederherstellung der Rolle Frankreichs als dritter Großmacht unabhängig von den USA und der UdSSR. Damit logisch verbunden war in Bezug auf die EWG die weitere Akzentuierung des Prinzips der Intergouvernementalität, insofern Frankreich nicht darauf hoffen konnte Deutschland Forderungen zu diktieren, das seinerseits die supranationalen Momente verteidigte und ausbauen wollte.

Damit waren aber auch die französischen Pläne einer koordinierten und geplanten übernationalen Wirtschaftslenkung, wie sie in der Montanunion angelegt waren und auch von der EWG erhofft wurden, zum Scheitern verurteilt. Von Seiten Deutschlands waren sie sowieso immer ungeliebt geblieben.

Gegen den Beitritt Großbritanniens legte de Gaulle zweimal sein Veto ein, denn er betrachtete es als trojanisches Pferd der USA. Außerdem würde London den schwierigen Kompromiss mit Bonn über den Freihandel kippen.

Es war bezeichnend, dass der Streit über die französischen Agrarsubventionen eskalierte, die Deutschland im Sinne der Öffnung zum Weltmarkt zurückgefahren wissen wollte. Für eine gewisse Zeit verließ Paris sogar die gemeinsamen Institutionen, um erst zurückzukehren, nachdem das intergouvernementale Prinzip der Einstimmigkeit bei wichtigen Entscheidungen nochmals festgezurrt wurde.

Goldenes Zeitalter des nationalstaatlichen Kapitalismus

Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich bei der beschriebenen Periode um die längste und dynamischste Expansionsphase des Kapitalismus überhaupt handelte, die fast drei Jahrzehnte andauerte und Westeuropa tiefgreifend transformierte. Die Systemkonkurrenz zwischen Ost und West ermöglichte und erforderte sogar die massiven und historisch beispiellosen sozialen, politischen und auch kulturellen Zugeständnisse an die Arbeiterschaft und die unteren Schichten im Allgemeinen. So konnte die Nachfrage gesteigert und die Wirtschaft weiter beflügelt werden. Die substanzielle Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter sowie der Sozialstaat ermöglichten schließlich die Entwicklung zur »Mittelstandsgesellschaft«, die die bisher prägende politische Klassenspaltung subjektiv-kulturell zu überbrücken vermochte. Die Arbeiterbewegung und insbesondere die Kommunisten konnte so zumindest im Zentrum ohne gröbere diktatorische Eingriffe integriert beziehungsweise zum Verschwinden gebracht werden. Auch das war ein Aspekt der Amerikanisierung Europas.

Insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, die sehr schnell wieder zur wirtschaftlichen Führungsmacht aufgestiegen war, und in ihrem unmittelbaren Einflussbereich, ging dieser Transformationsprozess glatt und ohne größere Brüche vonstatten. Der ordoliberale Ansatz, der sich realpolitisch über weite Strecken vom reinen Wirtschaftsliberalismus nicht wesentlich unterscheidet, wurde mit einem Neokorporatismus verfeinert und ergänzt, das Gemenge dann »Soziale Marktwirtschaft« genannt.

Aber auch Frankreich fuhr mit dem wirtschaftlichen Dirigismus gut. Der Rückstand zu Deutschland sowie die im Vergleich viel mächtigere Arbeiterbewegung erforderte ein stärkeres, lenkendes Eingreifen des Staates. Der Übergang zur Mittelstandsgesellschaft verlief in der Zentrumsperipherie, in Ländern wie Italien und Frankreich, widersprüchlicher und erfolgte über das europaweite Phänomen des Mai 1968. Die damit einhergehenden enormen sozialen und auch politisch-kulturellen Zugeständnisse in Südeuropa wiesen schon in die nächste Periode hinüber, nämlich die der keynesianistischen Gegensteuerung zur einsetzenden Krise.

Der von der Führungsmacht USA ausgehende Druck Richtung Freihandel erfolgte dennoch im Rahmen eines nationalstaatlich organisierten und regulierten Kapitalismus. Im Zuge der westeuropäischen Integration wurde eine gemeinsame Währung immer wieder als Desiderat genannt. Doch das Bretton-Woods-System, die Dollar-Gold-Bindung sowie die gemanagten festen Wechselkurse wirkten ähnlich wie eine gemeinsame Währung, erforderten jedoch systemisch Kapitalverkehrskontrollen.

Krise der 1970er-Jahre und liberale Gegenreform

In den 1970er-Jahren kam der sozial-demokratische Kompromiss (vgl. Crouch 2011) der kapitalistischen Zentrumsländer in die Krise. Einmal in wirtschaftlicher Hinsicht, Anfang der 1970er-Jahre erfolgt der erste ernsthafte Kriseneinbruch nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Arbeitslosigkeit begann zu steigen und die Inflationsraten zogen ebenfalls an. Der Kriseneinbruch wurde mit keynesianistischen Mitteln bekämpft, indem über höhere Staatsausgaben und erhöhte Staatsverschuldung für zusätzliche Nachfrage gesorgt wurde. Teilweise kamen auch wirkliche linkskeynesianistische Konzepte der Nachfragestimulierung über Umverteilung zum Einsatz. Gerne wird dieser Politik ein einfaches Scheitern unterstellt, aber der Vergleich macht unsicher: Der höchste Wert deutscher Arbeitslosigkeit in den 1970er-Jahren lag 1975 bei gut 4 %, dieser Wert wurde 1981 wieder überschritten und liegt seither beständig höher. In Großbritannien lag die Arbeitslosigkeit bis 1979 immer unter 6 %, um in der Zeit der marktradikalen Gegenreform unter Thatcher 12 % zu erreichen. Die US-amerikanische Arbeitslosigkeit war Mitte der 1970er relativ hoch, sank bis 1979 aber wieder auf gut 5 %. Erst unter der neoliberalen Regierung Reagan wurden 10 % Arbeitslose erreicht. Weltweit betrachtet wuchs das BIP/Kopf in den 1960er- und 1970er-Jahren, Jahrzehnten staatlicher Regulierung und Steuerung, um jährlich 3 %, in den 1980er- und 1990er-Jahren, den Jahrzehnten des Triumphes der entfesselten Märkte, um 2,3 %.

Trotzdem: Der Kriseneinbruch zum damaligen Zeitpunkt war real und die keynesianistischen Rezepte konnten die Prosperität des goldenen Zeitalters nicht wiederherstellen.

Eine genaue Reflexion der Gründe dieser Krise sprengt den Rahmen dieses Buches: Die Liberalen machten zu wenig flexible Märkte, zu starke Gewerkschaften und eine inflationäre Lohn-Preis-Spirale als Schuldige aus. Teile des marxistischen Lagers orteten gefallene Profitraten, was sich im Endeffekt von der liberalen Analyse der Krisenursachen nicht besonders stark unterscheidet. Wir würden vermuten, dass der offensichtliche Grund einen wichtigen Anteil hat: Der Verlust der amerikanischen Kontrolle über den Ölpreis. Vor der Gründung der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) 1960 und dem Ölpreisschock 1973 hatte die Texas Railroad Commission den Preis des Öls bestimmt und niedrig gehalten. (vgl. Galbraith 2014) Doch in den 1970ern passierte keine wirtschaftliche Katastrophe wie in den 1930ern. Das Ende der Wohlfahrtsstaaten keynesianistischer Prägung geht auf politische Entscheidungen zurück, nicht auf wirtschaftliche Sachzwänge. Letztlich kündigten die Eliten den sozialen Kompromiss mit der Arbeiterbewegung einseitig auf, weil der sozial gedämpfte Kapitalismus politisch nicht mehr notwendig schien.

Ende der 1970er-Jahre gewann die wirtschaftsliberale Gegenreform an Kraft. In der Geldpolitik setzte sich der Monetarismus durch, administrative Höchstpreise wurden als ineffizient verworfen. Statt staatlichen Planungsvorgaben sollten angeblich effiziente Finanzmärkte Kapital verteilen und niedrigere Steuern Gutverdienern einen Anreiz zu mehr Arbeit geben.

Auch kulturell triumphierte der Neoliberalismus. Die Sowjetunion und ihr Wirtschaftsblock, die den Bruch mit dem Kapitalismus repräsentierten und während der Aufstiegsphase des kapitalistischen Wirtschaftswunders global insbesondere unter den ärmeren Schichten erhebliches Ansehen genossen, hatten mittlerweile ihre Anziehungskraft verloren. Dem extensiven, schwerindustriellen Wachstum folgte keine intensive, qualitative Entwicklung, die auch den Konsumgütersektor erfasst hätte. Während der Zentrumskapitalismus seine autoritären, auf offener Klassenherrschaft beruhenden Züge in Form der Mittelstandsgesellschaft abgestreift hatte, war der Ostblock eine Entwicklungsdiktatur geblieben, jedoch mit zunehmender Stagnation. Er konnte keine Alternative mehr bieten, solange es den westlichen Eliten gelang, die kulturelle Hegemonie für den ungebremsten Kapitalismus wiederherzustellen, die sie spätestens mit dem Ersten Weltkrieg eingebüßt hatten.

Diese politisch-kulturelle Wende fiel entscheidend aus. Kollektivismus, Etatismus und Korporatismus hatten die Arbeiterbewegung, aber auch den romantischen Nationalismus, den Faschismus, die katholische Tradition und die wohlfahrtsstaatlichen und planenden Staatsapparate der Kriegs- und Nachkriegszeit gekennzeichnet. An ihre Stelle trat das nackte Individuum, mit einem individualistischen Freiheitsbegriff. Die »Freiheit« der französischen Revolution war die Freiheit des Kollektivs der französischen Nation und seiner repräsentativen Versammlung gegenüber dem König. Die Freiheit der Arbeiterbewegung war die Freiheit des Kollektivs der Arbeiter(klasse) von Ausbeutung durch die Besitzenden. Die Freiheit des neuen Liberalismus war die Freiheit des Individuums vor staatlicher Einmischung, die Freiheit (fast) keine Steuern zu bezahlen, die Freiheit des Unternehmers, einzustellen und hinauszuschmeißen, wen er mochte, und seine Freiheit am Markt teilzunehmen.

Mitterrand besiegelt Kehrtwende

Die 1980er-Jahre waren von der definitiven Niederlage der Versuche alternativer Wirtschaftspolitik geprägt, als deren höchster Ausdruck die französische Linksregierung unter Mitterrand in den Jahren 1982 bis 1983 gelten kann. Während die Fehlschläge keynesianistischer Wirtschaftspolitik in den 1970er-Jahren in erster Linie die Ablehnung der Eliten gegenüber höheren Inflationsraten und deren folgende Panikmache widerspiegelten, kam Frankreich unter Mitterrand tatsächlich in Bedrängnis. Das Programm der Linksregierung war tatsächlich relativ umfassend, beinhaltete etwa auch Verstaatlichungen, der zentrale Aspekt war aber der erneute Ausbau des Wohlfahrtsstaates, unter anderem zur Stärkung der Nachfrage. Nur hatte sich das internationale Umfeld gewandelt: In den 1960er- und 1970er-Jahren war die Stimulierung der Nachfrage noch im internationalen Gleichklang erfolgt (mehr oder weniger), für die 1980er traf das nicht mehr zu. Frankreich trat aufs Gaspedal der Nachfrageförderung, während der Rest der Welt auf die Bremse sprang, um die Inflation zu bremsen und die Macht der Gewerkschaften zu brechen. Die zusätzliche Nachfrage verpuffte als Importe über die Grenzen, die höheren Löhne trieben die Inflation an und verringerten die Konkurrenzfähigkeit. Statt der Rückkehr der Prosperität setzte es steigende Inflationsraten, steigende Staatsdefizite, ein steigendes Defizit der Leistungsbilanz und eine Zunahme der Arbeitslosigkeit (letztere war aber ein internationales Phänomen). Eine Fortsetzung des Kurses der Linksregierung wäre nur durch massive Kapitalverkehrskontrollen und eine deutliche Änderung der Währungspolitik (Abwertung des Franc) möglich gewesen, zu diesem Zeitpunkt hätte das aber bereits einen Bruch mit den europäischen Partnern und den USA bedeutet.

Denn die neoliberale Dampfwalze hatte ausgehend von den USA und Großbritannien Fahrt aufgenommen. Bonn, das unter den Kanzlern Brandt und Schmidt gegen die Krise moderat keynesianistisch gegengesteuert hatte, schloss sich umgehend den anglosächsischen Vorbildern an, auch weil die BRD eine der am meisten von Exporten abhängigen und damit internationalisierten Volkswirtschaften war. Die traditionelle deutsche Geldpolitik konnte sich nahtlos mit dem amerikanischen Monetarismus zusammenschließen. So trommelte die BRD den neoliberalen Takt der westeuropäischen Integration, dem sich alle anderen unterordnen mussten. Nachdem Frankreich unter Mitterrand klein beigegeben hatte, wollte es mit dem sozialdemokratischen EU-Kommissionspräsidenten Jacques Delors die erste Geige des neoliberalen Zusammenschlusses spielen.